Ein treuer Freund

Wir haben uns auf 10.00 Uhr vereinbart. Ich sage zu ihr: »Auf ihn können wir uns verlassen, er wird sicher pünktlich sein. «  Sie zweifelt und meint: » Er hat doch eine weite Reise vor sich. Bei dem lebhaften Verkehr auf den Straßen muss man immer mit Staus rechnen. «  Ein Blick auf die Uhr:  Es ist 9.50 Uhr und damit noch 10 Minuten, bis zum vereinbarten Termin.

In vielen Jahren gemeinsamer Tätigkeit in der gleichen Firma, lernte ich meinen Freund Josef, einen Bauingenieur, als einen tüchtigen, verlässlichen Menschen schätzen. Er würde mir sehr fehlen, wenn ich ihn nicht kennen gelernt hätte. War er doch ein bescheidener, lebensfroher, intelligenter Mensch, der sich nicht nur in seinem Beruf, sondern auch in vielen Belangen des täglichen Lebens gut auskannte: Er konnte ein Motorrad in Teile zerlegen und wieder zusammenbauen, ohne dass etwas übrig blieb. Sportlich, vielseitig interessiert, gehörte er in seiner Altersgruppe als Marathonläufer und in anderen Sportarten zu den Besten. Josef erledigte seine Aufgaben gewissenhaft, und war sehr an klassischer Musik, philosophischen und ethischen Fragen interessiert. Er stand zu seiner christlich geprägten Weltanschauung und zu einigen skurril anmutenden Sonderheiten:

Josef war überzeugter Vegetarier und trug aus Gründen der Pietät, aus der Mode gekommene Schuhe und Kleidungsstücke seines Onkels, der als Pädagoge an einem Gymnasium tätig war. Mit Frauen tat er sich schwer: Ich wurde Zeuge einer Auseinandersetzung Josefs mit unserer früheren, hübschen Sekretärin einer Bauunternehmung. Er versuchte eine Annäherung auf philosophischem Wege und brachte unsere Sekretärin, die nichts davon verstand, zur Weißglut. In Ihrem Zorn nahm sie ein vierkantiges, an den Ecken metallverstärktes Lineal und schlug so hart auf den »Philosophen« ein, dass es in Stücke zerbrach. Josef schützte seinen Kopf  notdürftig mit den Armen, verzichtete auf den unerwünschten Dialog mit unserer Sekretärin und flüchtete im Rückwärtsgang aus deren Büro.

Wie er dennoch eine lebenstüchtige, charmante Vegetarierin fand,und einer Schar Kinder, in langjähriger Ehe, die Wege ins Leben ebnete, grenzt ans »Wunderbare«. Wir Kollegen waren nicht ganzschuldlos, denn wir informierten ihn, dass eine hübsche Apothekerin sich darüber freuen könnte, wenn er ihr anböte, ihren Dackel Gassi zu führen. Für alles, was sich daraus ergab, trägt er und seine Frau, die Verantwortung.

Viele Jahre hatte ich meinen Freund nicht mehr gesehen. Nun ergab sich ein Anlass, ihn zu uns einzuladen. Wir beabsichtigten, ein älteres Haus in Backnang zu kaufen. Seit meiner Tätigkeit als Baukaufmann im technischen Stab eines größeren Unternehmens, war ich mit Einschätzungen unserer Ingenieure vertraut, dass in jeder Altbausubstanz mit versteckten Risiken zu rechnen ist. Wir hatten allen Grund, uns vor einem Kauf fachlichen Rat ein zu holen. Ich erinnerte mich an meinen Freund und bat ihn, uns zu besuchen und das Haus zu begutachten. Er sagte zu. Und wenn Josef zusagte, galt sein Wort. Es war inzwischen 9.55 Uhr. Ein Wagen fuhr vor. Josef stieg aus.

Er war, wie ich, zwar älter geworden, wirkte aber, wie früher, schlank und athletisch. Wir begrüßten uns. Ich stellte ihm meine Frau vor und sagte zu ihm: Josef, treibst Du immer noch so viel Sport wie früher?  Er antwortete: Eigentlich nicht. Ich habe in den letzten Jahren nur noch an Marathon- und an Geländeläufen in meiner Altersgruppe beteiligt. Vierzehn Tage später erfuhr ich über meinen Friseur, der selbst auch Rennen lief, dass Josef ganz in der Nähe einen Rundkurs gewonnen habe.

Wir besichtigten das Haus. Josef haben wir es zu verdanken, dass wir uns nicht auf einen Kauf mit erheblichem finanziellem Aufwand, wegen des notwendigen Umbaus eingelassen haben. Er nahm zum Abschluss des Gesprächs eine Einladung in unserer Wohnung an. Ich hatte meine Frau bereits darauf eingestellt, und darauf hingewiesen, dass Josef Vegetarier sei. Er wies, wie erwartet, mit einer freundlichen Geste unsere Käsespätzle mit Salat zurück und bat um trockenes Brot, nicht ohne uns zu versichern, wie herrlich das schmecke, wenn er es ausreichend kaue. Ein »Sonderling«, wenn ja, dann aber ein äußerst liebenswerter.

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Franz Schwald

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