Der Habenichts

Nach einem tiefen, gesunden Schlaf, befiel Habenichts eine innere Bewegung wie vor einem wichtigen Ereignis. Er wollte daher die Augen noch nicht öffnen, obwohl die Sonne schon zaghaft den Tag in ein freundliches Licht tauchte. Zu schön und kostbar war das, was sich seinem geistigen Auge darbot. In staunender Betrachtung verfolgte er das Werk eines inneren Künstlers, der Bild an Bild zu reihen vermochte:

Habenichts befand sich noch träumend, im hohen Mittelschiff einer himmelwärts weisenden, gotischen Kathedrale. Tief beeindruckt von den Altären und Kunstwerken, verweilte er in einer Kirchenbank. Da bemerkte er in einer Seitenempore, einen betenden Mönch, der mit gesenktem Kopf, das den Raum füllende Orgelspiel in sich aufnahm.

Plötzlich schien es Habenichts, als könne auch er die Orgelklänge hören, die sich mit den hochstrebenden Pfeilern des gotischen Innenraumes, zu einem feierlichen Lobgesang vereinigten. Und es weitete sich sein innerer Blick: Er erinnerte sich an die schönsten Augenblicke seines Lebens, in denen er die Nähe Gottes fühlen durfte. Der Gesang und die Musik schienen nun, wie auf Engelsflügeln, den Kirchenraum zu verlassen. Alles sollte jetzt mitsingen, dachte Habenichts, in seiner kindlichen Freude, die ihn ergriff.

Was hatte er doch für wunderbare Ohren: Die Sterne begannen zu klingen, die Quellen und Wasserläufe stimmten auf ihre eigene Weise mit ein. Der Wind bewegte, wie von Geisterhand, Blätter und Büsche zu einem einzigen großen Rauschen. Die Tier und alle Lebewesen konnten nicht ruhig bleiben. Auch die im Osten aufgehende Sonne stimmte in den Lobgesang mit ein.

Habenichts fühlte sich in seinem Federbett ruhend, von wunderbaren Geschenken überschüttet. Er wagte es noch nicht, zu erwachen, um ja nichts von diesem Erlebnis zu versäumen. Still, im ruhigen Atmen, war er bereit, all das Schöne geschehen zu lassen. Es schien ihm, als wäre das ganze Universum ein einziger großer Gesang und er, berufen, seine Freude hinauszujubeln.

Raum und Zeit verlor ihr Maaß. Habenichts vernahm die Musik aller Zeiten von Frauen, Männern und Kindern, die in den feierlichen, Gesang einstimmten. Seine feinen Ohren hörten sogar die Melodie der Sprache und Werke aller Menschen. Nichts und niemand sollte vom weltumspannenden Lobgesang ausgeschlossen sein. Auch Habenichts stimmte erwachend, und vor Freude zitternd, zunächst leise, und dann mit immer festerer Stimme in den Sphärengesang: „Ad Deum ad Dominum, ad Deum ad Domininum, ad Deum ad Deum oramus!“ ein.

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