Der Landpfarrer

Er hatte schon bessere Zeiten gesehen. An diesem etwas nebligen Regentag saß er in seiner kleinen Wohnung. Er hatte sie, seit er sich im Ruhestand befand, getrennt von Überflüssigem, bewusst bescheiden eingerichtet. Für seine umfangreiche, geliebte Bibliothek gab in seiner jetzigen Wohnung dafür ja auch keinen ausreichenden Platz. Er erinnerte sich an die Zeit, als er seine erste Stelle als Vikar antrat. Damals war er mit einem Herz voller Hoffnungen in den Dienst der Kirche getreten. Die aufregenden Zeiten, vor und nach der Priesterweihe, gehörten längst der Vergangenheit an. Es kam ihm aber ein Augenblick im Freiburger Münster in den Sinn, der ihn bis ins Mark seiner selbst berührte: Lang ausgestreckt, lag er neben den anderen Weihekandidaten vor dem Bischof. Hier auf dem wenig gepolsterten Boden fanden seine aufgeregten Sinne, die er von den Zehen bis in die Fingerspitzen wahrnahm, ein wenig Ruhe. Das auf der Erde fest gegründete Münster hatte ja schon Generationen angehender Priestern Halt gegeben. Und die Worte: „die Pforten der Hölle werden sie nicht überwältigen – und adsum“ gingen ihm durch Kopf und Herz. Jetzt, in seiner vielleicht letzten Wohnung, erinnerte er sich an die Berührung mit dem Boden des Münster, die Mutter Kirche, und den Herrn, die ihn bis hierher getragen und geführt hatten. Er kam ein wenig zur Ruhe. Tief bewegt formten seine zitternden Lippen ähnlich wie damals das »adsum«. Im Rückblick und in der Vorausschau aber ein wenig anders als damals. Er schaute auf, zu dem ihm vertrauten Kreuz. Und er wusste, dieser Menschensohn, der so schändlich Endende, ER ist da, führt die Kirche, und begleitet jeden Menschen durch sein Kreuz zur Auferstehung. Mitten in seinem Fragen, löste sich in ihm österlicher Jubel in der Gewissheit im Glauben: „Tod wo ist Dein Stachel, Hölle wo ist Dein Sieg“.
Und er durchbetete wie so viele Male in seinem Leben sein „adsum“. Der Herr wird ihm, so wie der feste Grund dem Freiburger Münster Halt und Stand geben, und immer da sein, ihn wie die Kirche und die ganze Schöpfung tragen. Getröstet kann er sich sagen: Eigentlich bin ich mein ganzes Leben lang mit kleinem Gepäck gewandert. Ein guter Engel ist mir auf meinen Wegen beigestanden, hat mich im Gewissen geführt und vor dem schnöden Mammon, dem Tanz um das goldene Kalb, in allen Variationen bewahrt. Wenn er der König unserer Herzen alles aufgibt, uns bis zum letzten Blutstropfen liebt, segnet und in seinem Herzen birgt, Sein ADSUM aushaucht, ja was dann? Dann kann auch ich im Frieden mit IHM, mein kleines adsum leben und sagen: Da bin ich, mein Herr und mein Gott! Dir kann ich mich und alles anvertrauen und dessen gewiss sein, Du segnest meinen Ein- und Ausgang, mein Ruhen und Wachen, meine Brüder und Schwestern, die ganze Schöpfung, und den Weg Deiner Kirche durch die Zeit.

Die kleine Wohnung des Priesters war noch nicht ganz eingerichtet. Er schaute sich um, und fand, den schönsten Platz, für das aus Lindenholz gefertigte Kreuz aus Familienbesitz. Daneben hängte er ein Bild der Gottesmutter mit dem Jesuskind. Und es klang und jubelte in seinem Herzen: »Mutter sie Deinen Sohn, Sohn sieh Deine Mutter!« Wie die Musik tiefer als jedes Wort Empfindungen der Seele zum Tönen bringt, so klingen und singen die Marienlieder von Sehnsucht, Freude und Leid der Menschen. Ja es stimmt, dachte er, was ihm ein priesterlicher Freund weissagte: »Marienkinder gehen nicht verloren«. Erst ein wenig zaghaft, dann aber aus voller Kehle sang er wie so oft schon der Gottesmutter zu Ehren das Lied: »Gegrüßet seist Du Königin, o Maria«, und er sprach mit ihr sein „fiat“. Viel Inventar wollte er angesichts des leidenden Herrn in seiner Wohnung nicht dulden. Sein stets bereiter Schutzengel gab ihm aber den Rat, das Nötige nicht außer Acht zu lassen. Wer kann schon einem Schutzengel, zumal einem, der ihn so oft vor Schaden bewahrte, widersprechen? Oft hatte er sich unter seinem Schutz gegen alles Mögliche wirkungsvoll zur Wehr gesetzt. Vor seinem Schutzengel hatte er daher Respekt. Seine Zuwendung wollte er keineswegs verscherzen. So gab er wörtlich zu Protokoll: Ich weiß zwar nicht, wo Du Dich in diesem leeren Raum versteckst, sicher bin ich aber, dass Du nichts gegen Gottes Willen tust. So will ich denn Deinem Rat folgen, und mir die nötigen Gegenstände zur Einrichtung der Wohnung besorgen. Du kannst mich dann davor bewahren, dass ich dem auferstandenen Herrn eine zu dürftige Wohnung bereitstelle. Gelitten hat er auf Erden ja genug. Unter dieser Voraussetzung gelang es dem angehenden Ruheständler, sich maßvoll zu kasteien, ja noch mehr, sich darauf zu freuen dem Herrn und allen, die ihn besuchen wollten einen angenehmen Aufenthalt zu bereiten. Während seiner Dienstjahre gab es oft viele hilfreiche Hände, die dafür sorgten, dass er immer einen geeigneten Raum zur Verfügung hatte, in den er sich ab und zu zurückziehen konnte. Manchmal hatte er beide Augen zugedrückt, wenn er Wohnräume übernahm, die mehr dem Geschmack der Vorgänger und weniger den eigenen Wünsche entsprachen. Jetzt aber bestand ja die Möglichkeit, selbst darüber zu befinden, was in seiner Wohnung Platz finden sollte. Auf einmal regten sich seine kreativen Geister wieder. Er überlegte gar nicht mehr lange, und entschied sich, dem Rat seines Schutzengels, bei der der Einrichtung seiner Wohnung zu folgen. Es dauerte nicht lange und er gewöhnte sich an den Ruhestand und die Tatsache, dass er nun ungezwungener als während seiner Dienstzeit die Tag gestalten konnte, und nun wie die Benediktiner, nach eigener Wahl beten und arbeiten durfte. An Besucher, die ihm die „Klause“, sein neues Zuhause von Herzen gönnten, mangelte es ihm nicht. Dass er in einer ländlich geprägten Umgebung inmitten der Natur wohnen durfte, entsprach seinen bisherigen Erfahrungen und Gewohnheiten als Landpfarrer. Er konnte es mit der Zeit sogar mit seinem Gewissen vereinbaren, dass die Gäste sich in seiner Wohnung wohl fühlten und das sparsame Inventar bewunderten

Franz Schwald
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