Kriegsweihnacht

Es ist Heiligabend. Die Großmutter sitzt auf ihrem Stuhl in der schlichten Wohnküche. Sie hat, wie so oft, ihre Füße auf einen bequemen Hocker gestützt. Ihre durch lebenslange, strenge Arbeit müde gewordenen Hände, halten den Rosenkranz. Die abgegriffenen Perlen gleiten wie von selbst durch ihre Finger. Griffbereit liegt ein frommes Buch in ihrem Schoß. Ihre besorgten Blicke schweifen über alles Nahe und wandern in die Ferne. Ein wenig Glanz aus der Unendlichkeit scheint ihr Herz zu berühren. Ab und zu blickt sie liebevoll auf ihren Enkel zu Füßen. Kein Wort unterbricht die Stille. Nicht einmal Klagen über Not und Mangel sind zu vernehmen. Alles wandelt sich in Sehnsucht und Erwartung: In seinen kindlichen Wünschen träumt Peter, der Enkel, von schönen Geschenken und einem im Kerzenlicht strahlenden, mit bunten Kugeln geschmückten Christbaum. Immer wieder schaut er auf zu seiner Großmutter, deren Lippen sich betend bewegen. Wie sehr können manchmal Augenblicke liebender Nähe, Armut in Segen und Freude verwandeln?

Es gibt allen Grund zum Gebet: Noch wird an allen Fronten  schwer gekämpft. Ein bescheidenes Fest, wenn überhaupt, erleben viele Soldaten. Der Tod ist ihr ständiger Begleiter. Trauer und Schmerz trifft ihre Familien zu Hause. Entbehrungen und Kälte herrschen an der „Heimatfront“. In der Küche spenden einige Holzstücke behagliche Wärme. Die Liebe der Großmutter zu ihrem Enkel und deren Gebete, bringen in friedloser Zeit ein wenig Glück und Geborgenheit in den Raum. Nun nimmt sie ihr Buch in die Hand, das sie Tag um Tag wie einen kostbaren Schatz in ein rotes Tuch gehüllt, unter ihrem Mieder bei sich trägt. Die feierliche Stille wird nur vom Knistern des abbrennenden Holzes im Herd unterbrochen. Peter erahnt ein großes Geheimnis. Erhabenes muss in dieser Heiligen Nacht geschehen. Man sagt ja einander, die Liebe Gottes sei unterwegs zu den Menschen. Da klopft es an die Türe. Peter öffnet. Eine Nachbarin tritt ein. Sie  wünscht „frohe, gesegnete Weihnacht“ und sagt herzliche Grüße von Pfarrer Dold. Über das Gesicht der Großmutter huscht ein weises Lächeln, als habe sie mit Sicherheit diesen Besuch erwartet und erbetet. Fräulein Stocker, die in Ehren ergraute Besucherin, packt ihre „Schätze“ aus: Eine Flasche Wein, eine Tafel Schokolade und eine Maus, die man aufziehen kann. Die kleine Gesellschaft, Besucherin, Großmutter und ihr Enkel Peter, hätten an diesem besonderen Abend gar nicht mehr Liebe aushalten können. Alle sind nun gewiss, dass beim Christkind immer mit einer Überraschung zu rechnen ist. Die weisen Augen und das gute Herz der Großmutter umfassen in dieser Heiligen Nacht alle Armen. Krieg und Not müssen da für einen Moment schweigen. Und Weihnachtsfriede hüllt alles in einen Mantel der Liebe. Da lässt sich gut beten und spielen. Die Maus muss viele Male aufgezogen werden und dreht zur Freude des Enkels ihre Kreise zu Füßen der Oma. Unfassbar großes Glück erfüllt die kleine Küche und ihre Bewohner.

Betende Hände

 

 

Franz Schwald
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