Der Künstler

 

 Oft saß er in sich versammelt auf einem Stuhl, stand wieder auf, ging einige Schritte, verweilte nachdenklich, und ließ seine Augen auf einem Gegenstand in der Nähe ruhen oder in die Ferne schweifen. Diesen Wechsel des Hinblicks liebte er wie den Atem und Herzschlag. Er konnte nicht genug bekommen, im absichtslosen Spiel von Nähe und Distanz, neue Formen und Perspektiven zu entdecken. Zuweilen kam Freude in ihm auf, wenn die beobachteten und inneren Bilder, sich wie in einem Film miteinander verwoben, und zu ungeahntem neuem Leben in Gestalten oder Ideen erwachten. Er benutzte zur Bezeichnung des kreativen Vorgangs beim Beobachten, Prüfen, oder Aneignen einer neuen Sichtweise, gern den Ausdruck des „Wiederkauens“. In der Tat sah der Künstler auch oft auf die unter ihm liegenden Häuser von „Schiffrain“ hinab, wo Rinder in behaglicher Ruhe wiederkäuend auf der Wiese lagen. Im Kontrast zum nüchternen Alltag, waren ihm, von heiterer Stimmung begleitete Mußestunden, im zwecklosen Spiel mit Realität und Fantasie sehr willkommen. Dabei fühlte er sich in Einklang mit der realen Welt, dem Reich der Fantasie, des Geistes und der Künste, als habe er seinen Platz in einer geordneten Welt gefunden, dankbar für alle Gaben, die ihm das Leben in den Schoß gelegt hatte.

Es konnte dann geschehen, dass er, gleich einem Bildhauer, in seiner Vorstellung aus sprödem Stein lustvoll neue Gestalten schuf, oder sich wie ein fantastischer Tänzer auf einer Bühne in eleganten Sprüngen zu Melodien bewegte. Gelegentlich erfreute ihn auch sein innerer Maler, der neue Formen und Perspektiven ins Bild setzte, oder der Poet und Philosoph in ihm, denen es gelang, Lebensgeheimnisse in Worten zu berühren. Fast mühelos entstanden aus dieser inneren und äußeren Erlebniswelt des Künstlers Werke, die zuvor noch nie existierten. Wie schmal wirkten dagegen die einst von eigener Hand gefertigte Figur „ich saß auf einem Steine“, der von einem Freund geschaffene „kniende Beter“, oder manche Arbeiten derer, die sich abmühten „Kunst zu machen“

Jetzt war er sich sicher, dass auch in ihm ein innerer Künstler danach drängte, am Kunstschaffen der Menschen aller Zeiten teilzunehmen, um aus dem Himmel der Ideen neue Gestalten und Formen entstehen zu lassen. Nun wusste er, dass auch in seinem Werk Wahrheit und Sinn inne wohnten. Er flog als ein „Staunender“, gedankenschnell von Ort zu Ort und barg, Hand in Hand mit allen Künstlern, was Unholde oder die Zeit zerschlagen hatten. Wie viele Künstler vor oder mit ihm, war er mit Herz und Sinn zum Trost in unruhigen Tagen bereit.

Zu seinem fantastischen Reichtum gehörte auch die Musik. Nicht enden wollende Melodien und Rhythmen lebten in der Seele unseres Künstlers, und bereicherten immer wieder aufs Neue seinen Alltag. Gluck, Vivaldi, Bach, Beethoven, Mozart, Schubert, Schumann und andere Musiker, residierten mit Tönen, Akkorden und Kompositionen in seiner Seele. Er stand mit seinen Freunden auf Du und Du und durch sie angeregt, geschahen in seiner Fantasie wunderliche Dinge, wie gerade jetzt:

An seinem inneren, wohl klingenden Flügel sitzend, greift unser Künstler voll in die Tasten, als sei er selbst zum Piano und Pianisten geworden. Kräftige, vielstimmige Akkorde quellen aus seiner Seele, und in facettenreichen Variationen umspielt das jubelnde Instrument sein Thema, um sich dann in perlendem Spiel aufzulösen. Der innere Dirigent gibt soeben mit einem kaum erkennbaren Handzeichen den Bässen den Einsatz. In getragenen, auf- und abschwellenden Triolen übernehmen sie die Melodie. Nun setzen die Cellos mit ihren schmelzend weichen, gefühlvollen Tönen und Rhythmen ein. Nach einer kleinen Geste des Dirigenten, ertönen im mehrstimmigen Satz die Violinen mit ihren Variationen. Die erste Geige tritt hervor, und schraubt sich im weiten Volumen ihrer Solostimme in die Höhe. Wie schön ist es, diese innere  Geige zu sein und so fehlerfrei strahlen zu dürfen. In weiten, abschwellenden Bögen, verklingt die Melodie, bis das Orchester fast verstummt. Nun setzt behutsam einfühlend, das Piano zu einer sich in Akkorden mächtig steigernden Variation über das Thema ein, um danach leise ausklingend dem Piccolo, den Flöten und Oboen, Raum zu geben. In einem stetigen Crescendo, kommen Klarinetten und Fagotte hinzu. Nun stimmen mit sonorem Klang die Hörner ein, und vereinigen sich nach und nach mit den Trompeten, Posaunen und der Tuba zu einem mächtigen Tutti, das zusammen mit einem mehrstimmigen Chor im „Ehre sei Gott in der Höhe“ wie in einer mächtigen Symphonie, in einem Trommel- und Paukenwirbel mit ausklingendem Becken endet.

Wahrlich, dieses innere Orchester begleitet in manchen Stunden des Jahresreigens die Fantasien unseres Künstlers. So lassen sich im Frühjahr die ersten Schneeglöckchen und Winterlinge vernehmen, die mit den Vogelstimmen und sprudelnden Quellen, dem Rauschen des Waldes, den Winden und dem Wellenschlag des Meeres das Lied vom Werden und Sterben der Natur singen. Und der innere Dirigent, Sie liebe Leser, und alle Hörer dieser Sphärenmusik, dürfen einmal aufatmen und sich mit all den Lebekünstlern freuen, die Jahr um Jahre, Ton um Ton und Bild um Bild aus dem Himmel der Ideen sammeln, um ihnen dann zu gegebener Zeit eine neue Gestalt zu verleihen.

Welche guten Geister führen aber letztlich die innere Hand, die Gefühle und Fantasien eines Künstlers so, dass daraus der Gedanke entsteht, beispielsweise ein neues Bild zu malen. Welche Barrieren muss er zuvor überwinden, um etwas Neues zu erschaffen? Immer wieder muss unser Künstler in Mußestunden zum inneren Musiker, Dirigenten und Orchester zurückkehren, um sich in einem kreativen Prozess zu seinem Vorhaben zu ermutigen. Nach langer Zeit war es dann endlich so weit: Er hatte sich an Motiven satt gesehen und mit Melodien und Lust so erfüllt, um nun ans Werk zu gehen.

Als ob er es geahnt hätte, findet er in seinen Ablagen eine schon fertig gerahmte Leinwand, stellte sie auf die Staffelei, und sucht die nötigen Farben, seinen Malermantel, Palette und Pinsel zusammen. Obwohl der Frühling in diesem Jahr auf sich warten lässt, und die Sonnentage zu zählen sind, reicht das Licht für ihn aus, denn er hat bei seinem Vorhaben von vornherein geplant, ein Bild in satten und prallen Farben einer abendlichen Herbststimmung auszuführen. Vielmals hatte er zuvor den Blick über die Bauernhäuser von Schiffrain gleiten lassen. Sie waren ihm zu Fleisch und Blut geworden. Oft dachte er auch über das Schicksal, Tun und Treiben der Menschen einige Meter unter seinem Hause nach. Was hatte diese Bauern an diesen Ort geführt, und was veranlasste ihre Vorfahren, hier Fuß zu fassen und die Heutigen, den Platz nicht zu verlassen, um ins Zentrum des Ortes zu ziehen, sondern am äußersten Rand einer Siedlung auf dem Berge zu bleiben. Denn nur einmal im Jahr, zur „Sichelhenketse“, kamen Leute vom Tal zu ihnen hinauf, um mit den wenigen Bauern für eine gute Ernte zu danken. Aber ansonsten…..? Ein Glück für sie, dass es über ihnen noch einen Freund, den Künstler gab, der die Jahreszeiten mit ihnen teilte.

Er sitzt nun endlich vor seiner Staffelei, peilte noch einmal sein Objekt, die Häuser an, und reißt mit wenigen Strichen die Perspektive seines Motivs auf die Leinwand. Schon lange hatte er seine Bauernhäuser so gründlich beobachtet, dass er genau wusste wozu es ihn drängte, denn er wollte der sesshaften Anwohner wegen, von allem Unnötigen absehen. Das Bild das er malen wollte, war eigentlich schon in seiner Seele vorhanden. Er sah es mit inneren Augen. Nun galt es nur noch dieses Inbild mit dem äußeren Motiv abzugleichen. Wie von Zauberhand übernahm dabei der innere Künstler die Führung: Die Farben mischten sich zu ersten Flächen und Konturen. Er wollte unbedingt in den Farben Grün, Rot, Braun und Blau arbeiten, um die Erdverbundenheit der Bauern, die in ihren Häusern, Schutz und Geborgenheit fanden, im Bild zu betonen. Nur durch eine leicht angedeutete Abendstimmung, sollte Ruhe und Besinnlichkeit in die Szene kommen.

Unser Künstler hatte sich auch für die Fertigung des Bildes Zeit gelassen. Es war ihm ein Bedürfnis, Stück um Stück die inneren Bilder und Fantasien bei der Gestaltung mitwirken zu lassen. Strich um Strich, Farbe um Farbe, Form um Form gestaltete sich, das seinen Vorstellungen entsprechende Bild. Stark drängend, fanden die Farben hin zu dem je eigenen Strich und Ausdruck. Hart war das Ringen des Künstlers, um die einfache Form und herausfordernd das aufeinander prallen der farblichen Kontraste, bei den sich stoßenden Gegensätzen. Wie ein sorgsamer Bildhauer modellierte unser Künstler seine Objekte so, dass eine zentrale Mitte erkennbar wurde. Es sind wenige, dicht aneinander gedrängte Häuser mit ihren roten Dächern, die sich in Schiffrains Boden festkrallen. Eine große Überwindung dürfte es den Künstler gekostet haben, das gelungene Bild Freunden anzuvertrauen. Aber vielleicht hat er sich damit getröstet, dass wir sein Bild schätzten und es auch anderen Menschen zeigen könnten. Oft haben wir mit ihm ja schon über Kunst und die Arbeit von Künstlern gesprochen, und manche Ausstellung zusammen besucht.

Seit Jahren hängt das Bild an einem für uns immer wieder ins Auge fallenden Platz. Möglicherweise geht es uns bei der Betrachtung des Gemäldes ähnlich, wie dem Künstler bei der Wahl seines Motivs. Immer wieder in anderen Perspektiven, anderen Stimmungen, bei anderer Gelegenheit, haben wir uns mit diesem Bild beschäftigt. Das Erstaunliche ist dabei, dass es uns jedes Mal etwas Neues von sich und dem Menschen erzählt, dem wir es verdanken. Erst in diesen Tagen führte mich eine Erkrankung dazu, das Gemälde wieder einmal intensiv zu betrachten. Voraus gegangen war der Besuch einer Ausstellung, die der Dynamik und Bewegung von Objekten im Raum galt. Kein Wunder daher, dass wir das Bild unseres Freundes wieder neu sehen, und uns nun bei ihm mit dieser Erzählung für seine Anregungen bedanken können.

Gerade während ich mich jetzt ein wenig zurücklehne und all das bedenke, was ich Ihnen, liebe Leser, erzählte, tritt die Gestalt des Künstlers in aller Deutlichkeit so aus dem Bild hervor, dass ich nicht umhin kann, Ihnen „Martin“ vorzustellen und unseren Freund zu begrüßen: Von kräftiger Statur, mit gesunder Gesichtsfarbe, fröhlich-schalkhaftem Lächeln, und einer Nickelbrille vor seinen neugierig wachen Augen, tritt er uns entgegen. Martin besitzt genug Fantasie und Humor, um der überraschenden literarischen Begegnung mit uns Stand zu halten. Wir hatten ihn schon lang nicht mehr gesehen. Entsprechend herzlich gestaltete sich die Umarmung. Ich sage: „Lieber Martin, Du kommst uns gerade wie gerufen. Ich habe Dir schon verschiedene Male davon erzählt, dass Du uns mit Deinem Bild von Schiffrain viel Freude bereitet hast. Wahrlich eine Freude, die anhält und immer wieder erneuert wird. Hast Du im Augenblick Zeit und Lust mit uns einen kleinen Spaziergang zu machen? Ich wollte unter anderem mit Dir über diese Geschichte sprechen, zu der mich Dein Bild anregte. Aber ich bin mir nicht so ganz sicher, ob ich Deine Motive dieses Bild zu malen und die Bedeutung des Kunstwerkes für Dich richtig verstanden habe?“

Martin hackt sich bei mir ein -er weiß, dass ich nicht gut zu Fuß bin-.  Er scheint nicht allzu überrascht, uns plötzlich zu begegnen und sagt mit einem breiten Lachen, „lass uns einige Schritte gehen!“ Wir gehen eine Weile schweigend miteinander, dann gibt Martin zur Antwort: „ Ich bin selbstverständlich überrascht, was Dir zu meiner Motivation und zum Malen des Bildes eingefallen ist. Ehrlich gesagt, halb so viel, als Du mir zugedacht hast. Im Grunde aber fühle ich mich von Dir recht gut verstanden. Wir reden ja nicht zum ersten Mal über Kunst und Künstler. In einem muss ich Dir Recht geben: In unserer heutigen Zeit, die sich so aufgeregt gibt, dass uns manchmal das Leben Leid zu werden droht, ist es schon gut zu hören, wie reich wir „Habenichtse“ eigentlich im Grunde sind. Ich muss Dir aber zugestehen, dass Deine Einsichten, genau so wenig wie meine Bilder, über Nacht entstanden sein dürften. Es ist aber gut für uns Menschen, wenn es uns gelingt, ab und zu die Nase zu heben und gelegentlich die Erdenschwere mit Hilfe der Kunst und Fantasie etwas zu relativieren. Hättet ihr nun Lust, es für den Rest unseres Spazierganges einfach dabei zu belassen, dass wir uns, hoffentlich auch Deine Leser, verstanden haben, und nun in diesem Einverständnis mit einander weiter wandern?“ „Ich gebe Dir mein Wort darauf, sage ich, und wir geleiten Dich nach unserem Spaziergang bis zum nächsten Mal gern wieder an Deinen Platz im Bild zurück.“

Der Roboter

John, ein Elitesoldat, hatte eine sehr lange und harte Ausbildung hinter sich. Er gehörte zu einer global agierenden Einheit, die sehr gefährliche Einsätze ausführte. Als Einzelkämpfer oder in Gruppen, standen diese Männer, mit modernsten Waffen ausgerüstet, Tag und Nacht bereit, Leib und Leben zu wagen, um die Ihnen befohlenen Aufgaben zu erfüllen. John war stolz, zu dieser Elite zu gehören.
Bei einem Nachteinsatz wurde er schwer verwundet, und befand sich seit Monaten an einem geheim gehaltenen Ort in einem klinischen Zentrum zur Behandlung. Dort versorgten speziell ausgebildete Ärzte und Therapeuten mit neuesten, aus der Roboterforschung bekannten medizinischen Geräten, die Verletzten.
Da bei John Arme, Beine und der Oberkörper betroffen waren, erhielt er modernste Prothesen. Ein über Monate andauernder, belastender Heilungsprozess, war nötig, um sich an diese Hilfen zu gewöhnen. Trotz der auftretenden Schmerzen und Verstimmungen, blieb aber Johns ausgeprägter Lebenswille ungebrochen. Wie hätte er auch ohne diese Prothesen und die Hilfe anderer Menschen überleben sollen? Immer wieder sammelte er daher seine Kräfte, wie einst bei der Ausbildung, um den Heilungsprozess zu unterstützen.
Soeben betritt Schwester Hilde, wie so oft gut gelaunt, Johns Zimmer; ordnet die Blumen in der Vase, lüftet den Raum, misst Blutdruck und Temperatur des Patienten, und erkundigt sich freundlich nach seinem Befinden. Wenn sie in seiner Nähe ist, fühlt er sich in guten Händen. Ja, er schätzt die junge, hübsche Schwester, deren Gegenwart trübe Gedanken verscheucht. Im Gespräch mit ihr, vermag er sogar zu scherzen, als sei er seiner Sorgen enthoben. So schwärmt er heute davon, dass er ein guter Tänzer sei, und sich schon darauf freue, wenn die Heilung weiter fortschreite, die Schwester bald zu einem Tänzchen auffordern zu können. Schwester Hilde lächelt John vielsagend zu und entgegnet leicht errötend: „Vielen Dank für ihr Angebot. Es wird aber sicher noch eine Weile dauern, bis sie wieder tanzen können.“ Sie bewundert diesen Mann, der sich von seinem Missgeschick nicht erdrücken lässt, und findet ihn sympathisch. John, der dies bemerkt, entgegnet: „Wenn ich sie so vor mir sehe, fällt es mir schwer, die Klinik bald zu verlassen, denn sie tragen sehr zu meinem Wohlbefinden bei.“ Die Schwester antwortet lachend: „Herr John, ich bin nur ein Teil des therapeutischen Teams“. „Unter den Menschen, die sich hier um mich kümmern, sind sie, Schwester Hilde, für mich aber schon ein besonderer Teil des Teams, entgegnet John.“ Mit der Frage „soll das etwa ein Kompliment für mich sein“, verlässt die Schwester, ohne die Antwort abzuwarten, rasch den Raum. Ja, das stimmt, denkt John schmunzelnd, als sie das Zimmer verlässt; mit ihr zu tanzen, das könnte schön sein.
Heute ist große Visite: Der Chefarzt und seine Mitarbeiter betreten das Zimmer. Er reicht John freundlich die Hand und sagt: „Die bisherige medizinische Behandlung und die Physiotherapie zeigen bei Ihnen eine erfreuliche Wirkung. Wenn Sie in den nächsten Wochen wie bisher den Heilungsprozess unterstützen, können wir bei Ihnen schon bald mit einem gezielten Belastungstraining beginnen, bemerkt der Chefarzt unter beifälligem Kopfnicken der Oberärzte.“ „Auf die Gelegenheit der meine Kraft wieder erproben zu können, freue ich mich. Mit den Prothesen komme ich mir aber zurzeit noch wie ein wandelnder Roboter vor, bemerkt John lachend.“ „Es scheint, als hätten Sie Wind bekommen von den Vorbereitungen, die zurzeit in unserer Klinik im Gange sind, entgegnet der Chefarzt, und fährt fort: In einigen Wochen findet wieder unser jährliches großes Turnier statt. Genesene Patienten zeigen dann mit sportlichen und gymnastischen Übungen, ihre wieder erworbene Beweglichkeit. Ein von uns ausgewählter Patient tritt dabei, gegen einen Roboter an, um seine Kraft und Geschicklichkeit zu demonstrieren. Wenn Sie sich weiter Mühe geben, sind Sie dabei!“ John richtet sich ein wenig im Bett auf und entgegnet ermutigt: „ Auf mich können Sie sich verlassen!“
Die Wochen aufregender Vorbereitungen auf das Turnier, sind wie im Fluge vergangen. Heute findet es auf dem festlich geschmückten Sportplatz des Klinikgeländes statt. Einige geladene Gäste, Ärzte und Therapeuten, sitzen an diesem schönen Sommertag auf einer besonderen Ehrentribüne und die Patienten stehen erwartungsvoll rund um den Turnierplatz. Militärmusiker in schicken Uniformen, zogen soeben mit klingendem Spiel ein, stellen sich auf und unterhalten die Besucher mit Marschmusik. Einige Patienten in Sportkleidung sind eifrig dabei, sich mit Lockerungsübungen auf ihren Auftritt vorzubereiten. Nach einem letzten, schneidigen Marsch der Kapelle, begibt sich der Chefarzt ans Mikrophon, und eröffnet unter kräftigem Beifall aller Anwesenden, das diesjährige Turnier.
Nach den sportlichen und gymnastischen Übungen der einzelnen Gruppen, wird als Höhepunkt der Veranstaltung, der Kampf mit einem Roboter angesagt: John hatte Wort gehalten, und sein Leistungs- und Reaktionsvermögen so gebessert, dass ihn die Klinikleitung zum Kampf mit dem Roboter auswählte. Nun wärmt er sich vor seinem Kampf noch an verschiedenen Geräten im Fitnesscenter auf. Als er danach in Sportkleidung den Turnierplatz betritt, empfängt ihn unter lebhaftem Beifall der Gäste ein kräftiger Tusch des Orchesters. Trotz seiner Anspannung, entgeht John aber nicht, dass Schwester Hilde nach vorn drängt, ihm zuwinkt und aufgeregt applaudiert.
Der Chefarzt tritt noch einmal ans Mikrophon und wünschte John, der sichtlich bemüht ist, seine Angst zu kontrollieren, Mut und Glück zum Kampf mit dem Roboter. Da geht ein Raunen durch die Reihen der Gäste und John bemerkt, wie ihm die Knie zittern, als sein massiger Gegner leicht wankend auf den Turnierplatz rollt und sich ihm gegenüber aufstellt. In diesem Augenblick kommt sich John, wie David vor Goliath vor. Der Kolos ihm gegenüber, hatte kaum Ähnlichkeit mit einem Menschen. Erschreckend plump wirkte sein in der Sonne glänzender Metallkörper. Mit seelenlosen Augen, weit geöffnetem Maul und ausgebreiteten Fangarmen blickte ihn der Roboter an. Was konnte John gegen diesen Moloch unternehmen? Als erfahrener Elitesoldat konnte er sofort erkennen, dass er dem Riesen unterlegen war. Wenn er diesen Fangarmen zu nahe kam, hatte er mit Sicherheit keine Chance. Da ertönt auch schon das Kommando des Chefarztes aus dem Lautsprecher: „fertig, los!“
Langsam wankte der massige Kolos, sein Maul abwechselnd öffnend und schließend, mit seinen Greifarmen weit ausholend, auf John zu. Doch einige Male konnte er den wütend nach ihm greifenden Armen in letzter Sekunde entkommen, mit raschen Bewegungen ausweichend hinter den Roboter gelangen, und dessen elektronische Steuerung kappen. Wie vom Blitz getroffen fielen dessen Fangarme herunter und der Roboter blieb starr und bewegungslos vor John stehen. Ein Riesenbeifall und ein kräftiger Tusch der Militärmusik belohnt dieses Husarenstück. Jetzt erst begriff auch John, dass er soeben eine große Gefahr überstanden hatte und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Der Chefarzt gratulierte John, erklärte ihn feierlich zum Sieger, und Schwester Hilde überreicht ihm freudestrahlend einen Blumenstrauß. Mit erhobenen Händen, überglücklich den Blumenstrauß schwenkend, dankte John allen unter lang anhaltendem Beifall. Hatte er doch soeben nicht nur einen an roher Kraft überlegenen Gegner ausgeschaltet, sondern auch erfahren, dass er sich auf sein Selbstvertrauen und die Hilfen anderer verlassen konnte.
Man hörte davon, dass sich John einige Monate später, mit Schwester Hilde verlobte, und Beide nach weiteren zwei Jahren heirateten. Unter Gottes gnädiger Obhut lebte das Paar noch viele Jahre glücklich und zufrieden zusammen. Der Kindersegen blieb nicht aus. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute und tanzen sogar ab und zu miteinander.

Die Rettung

Friedrich war mit seiner Familie in eine belebte Stadt umgezogen. Sie leben dort schon mehrere Jahre. Er schätzt es nicht besonders, sich mit der Familie im Strom der Besucher treiben zu lassen zu lassen, um die wechselnden Auslagen der Geschäfte zu betrachten. An Musikern, die an der Straße bei swingenden Jazz ihre Solisten in Szene setzen, kam er aber selten vorbei. Von Jugend an gehört Musik zu seinem Leben und Rhythmus lag ihm im Blut. Die Familie hat sich mit dieser Vorliebe des Vaters und auch damit versöhnt, dass Buchläden auf ihn eine magische Anziehungskraft ausüben. Er kannte und schätzt aber auch die ruhigen Orte im der Stadtzentrum. Dort genoss er es, unter den Menschen zu sein, die Männer, Kinder und flanierenden Damen zu beobachten, und das pralle Leben auf sich wirken zu lassen. Mit Bedacht wählt er für sich und seine Familie diese große Stadt als Wohnort aus. Friedrich war für seine unersättliche Neugier bekannt, und auch Frau und Kinder fanden hier ein ihren Neigungen entsprechendes kulturelles Angebote vor: Es gab kurze Wege zur Arbeit, den Schulen, dem Markt, den Lebensmittel- und sonstigen Geschäften. Gelegentlich besuchte er mit seiner Frau als Gasthörer Vorlesungen an der Universität. Mit der Zeit entdeckte die Familie auch den Zoo und die verschiedenen Museen. Ihr besonderes Interesse galt aber der Musikhochschule. Dort hatten sie ihre Freude daran, die talentierten Studenten bei ihren Konzerten zu erleben und ihnen zu applaudieren. Der umsichtigen Mutter oblag es, den Besuch des Theater, Balletts, der Konzerte, Einkäufe und Kinderattraktionen mit den anderen familiären Verpflichtungen in Einklang zu bringen. Trotz aller Vorteile, die das Stadtzentrum bot, entschloss sich die Familie aber noch einmal zu einem Umzug: Ein Wohnungsneubau am Rande der Stadt, sollte im nächsten Jahr bezugsfertig sein. Von dort aus waren das Stadtzentrum und ein weiträumiges Erholungsgebiet leicht zu erreichen.

An einem sonnigen Spätsommertag, gerade noch warm genug, um sich in einem der Straßencafés bei Kuchen und Tee vom heutigen Spaziergang zu erholen, fanden sie Platz. Das Gespräch des Ehepaares und der Kinder verlief träge; sie benötigen eine  Pause, um die Eindrücke der letzten Stunden zu überdenken. Da richtete sich Friedrich plötzlich auf; er schien von irgendetwas fasziniert zu sein. Seine Frau bemerkt dies, und unterbrach das Schweigen mit der Frage: „Hast Du etwas entdeckt?“ Ohne sich umzuschauen antwortete er, mit der Hand in eine bestimmte Richtung deutend: „Wenn mich meine Augen nicht trügen, dann sehe ich Peter und Doris, unsere Freunde. Es scheint, dass sie heute den schönen Herbsttag auch genießen. Schau, dort kommen sie direkt auf uns zu, schick gekleidet, Arm in Arm, wie ein verliebtes Paar. Doris hat uns schon bemerkt, sie winkt uns freundlich zu. Wie schön, dass wir ihnen hier noch freie Stühle anbieten können.“ Doris und Peter kommen näher, begrüßen Friedrich und die Kinder, nehmen Platz, und bestellen sich Kaffee. In Kürze ist ein munteres Gespräch im Gange.
Die beiden Damen rücken enger zusammen, führen das Wort, und beginnen unter lebhaften Gesten ein Gespräch über die aktuelle Herbstmode und die Möglichkeit, im endenden Sommerschlussverkauf ein „Schnäppchen“ zu machen. Ihre Männer hatten keine Chance, und zu wenig Kenntnisse im Detail, um sich in das Gespräch der Damen einzubringen. Sie fanden aber bald ihre Sprache wieder, und ein beidseits interessierendes Thema.
Friedrich und Peter kannten sich schon lange, sodass sie sich nicht mehr scheuten, auch persönliche Erlebnisse anzuvertrauen. In Rede und Gegenrede lief ihr Gespräch -wie von selbst- auf das Thema zu, dass es unter Menschen im Alltag immer wieder Konflikte gebe, die zur Lösung einen Ausgleich der Interessen erforderten. „Solche Problem kenne ich gut, “ bemerkte Friedrich. „ Und ich erinnere mich gerade, wie schwer es mir früher gefallen ist, über so etwas „Peinliches“ mit anderen zu reden. Ich hatte Angst, missverstanden zu werden, und verschloss mir oft den Mund. „Das kenne ich auch, entgegnete Peter, aber ich habe mich zum Glück in dieser Hinsicht geändert. Friedrich schüttelte leicht den Kopf und entgegnete: „Manchmal aber, und das ist für mich die schwierigere Situation, hilft auch ein Gespräch nicht weiter, sondern erschwert nur die Verständigung. Bei einem derartigen Konflikt, kam mir aber zum Glück einmal das „Unbewusste“ zur Hilfe.“ „Kannst Du mir näher erklären, was Du damit meinst, damit ich Dich besser verstehen kann, entgegnete Peter?“ „Ich will es versuchen, antwortete Friedrich“: „Ich habe Dir vor einiger Zeit schon einmal davon erzählt, dass ich manchmal in Träumen Hinweise bekomme, wie ich mit einer schwierigen Lebenssituation umgehen könnte.“
Dazu fällt mir ein Beispiel ein: „Nach einer schwierigen Situation, hatte ich in der Nacht folgenden Traum: Ich befinde mich in einer großen Stadt. Dort ist ein mehrstöckiges Wohn- und Geschäftshaus im Bau. Von der Planung, über den ersten Spatenstich, bis zur Vollendung der letzten Decke verfolgte ich im Traum interessiert, den Fleiß und die Sorgfalt der Bauleute bei ihrer Arbeit. Der Dachstuhl des Gebäudes war noch nicht aufgerichtet.“ Friedrich machte hier eine kurze Pause, schaute sich nach den Damen um, und stellte befriedigt fest, dass ihnen der Gesprächsstoff noch nicht ausgegangen war.
Dann setzte er seinen Traumbericht fort: „Das besagte Haus lag in einem neu erschlossenen Gebiet am Rande einer Stadt. Die Zufahrten und die Parkplätze waren bereits vorhanden. In einiger Entfernung grenzten nur wenige, kleine Wohn- und Wochenendhäuser, an dieses Neubaugebiet. Zufrieden betrachtete ich im Traum den gelungenen Neubau, in den ich mit meiner Familie einziehen wollte. Dann ging ich daran, mich am Außengerüst empor zu hangeln. Ich gelangte glücklich oben an und blickte von dort aus, hoch erfreut, über die sich vor meinen Augen ausbreitende große Stadt. Nach einer Weile, versuchte ich im Traum wieder nach unten zu gelangen. Mit der linken Hand bekam ich aber eine Gerüststange nicht zu fassen, sodass ich nur noch an einer Hand über dem Abgrund hing. Der Schreck legte sich erst wieder, als es mir gelang, mich mit Mühe wieder auf das Baugerüst hinauf zu schwingen. Ich dankte Gott für diese „Rettung“, und war erst wieder beruhigt, als ich nach dem sicheren Abstieg wieder festen Boden unter den Füßen hatte. Dort traf ich im Traum mit einem Mann zusammen, dem ich den Vorfall und die glückliche Rettung aus großer Not berichtete. Wir stellten in einem freundlichen Gespräch fest, dass er als Ingenieur den Neubau begleitete, und auch ich einmal lange in einer Baufirma arbeitete. Als „ Männer vom Bau“ verstanden wir uns gut und vereinbarten, uns noch einmal zu einem ausführlicheren Gespräch zu treffen.“
Nach dieser Schilderung atmete Friedrich befreit auf, als ob er gerade eben noch einmal aus einer Notlage gerettet worden sei. Peter fügte hinzu: „Dank Dir Friedrich für das Vertrauen, mir den Traum von der glücklichen Rettung zu erzählen. Könnte es sein, dass Du Dich darauf verlassen kannst, dass Dir dieser Traum daran erinnert, dass Du auch in einer schwierigen Lage einen Retter zur Seite hast, der Dich vor einem Absturz bewahrt, auf den Du Dich genauso verlassen kannst, wie auf mich, Deinen Freund, dem Du, ohne Angst missverstanden zu werden, heute Deinen Traum erzählen konntest.“ „ Ich glaube, wir brauchen alle manchmal Die Hoffnung, einen Absturz zu überleben und einen guten Freund, der uns versteht. Einen Weg aus schwieriger Lage zu erkennen, ist immer tröstlich, entgegnete Friedrich. Dank auch Dir Peter für Dein Verständnis!“.
Das „Männergespräch“ war damit zu Ende. „Wir sollten uns aber nun auch wieder unseren Frauen zuwenden, bemerkte Friedrich“. Darauf entgegnete Peter: „Schau einmal hin, wie vergnügt die beiden sind, dass sie sich so lange von uns ungestört über die neueste Mode und andere Dinge unterhalten konnten. Mir scheint, Ihnen hat in der Zwischenzeit nichts gefehlt.“ „Da könntest Du Recht haben, entgegnet Friedrich.“ Es erübrigte sich für die Herren, die Damen nach Inhalten ihres noch andauernden Gesprächs zu fragen.

Erinnerig

I mine alde Dage
mues i´s no alle sage
i kenn e feini Schtadt am Rhy
di isch mer Heimet g´si
alli Mensche un die Brugg
kömme i mi Läbe z´rugg

Rhyfälde isch e Doppelschtadt
un Basel isch nit wit
g´rad isch mer´s wider übercho
isch des nit glatt
i mag si z´dritt

Mi Härz des lost si nit vebiäge
s´mag s´Großi un au s´Kleini
s´Grobi uns s´ganz Feini
un s´will scho gar nit liäge
s´nimmt alles in si Kinderbett
wo jedes e schön´s Plätzli het

Eine fantastische Reise

Eine fantastische Reise

Am frühen Morgen eines Septembertages hält der Zug. Der Bahnhof einer großen Stadt liegt im diesigen Licht der Neonleuchten. Lebhafter Verkehr herrscht auf den Bahnsteigen. Viele Menschen eilen zu ihren Arbeitsplätzen. Nur einige Fernreisende mit größerem Gepäck sind zu sehen.
Dem Zug entsteigt ein älterer Herr. Er gähnt, reibt sich die Augen, und schaut sich orientierend um. Dem aufmerksamen Beobachter fällt auf, dass er nur eine tragbare Reisetasche bei sich führt. Aufrechten Ganges strebt der gut gekleidete Herr dem Ausgang zu. Gelegentlich bleibt er wie in Gedanken stehen.
Ein junger, freundlicher Mann mit Aktentasche bemerkt den Herrn, geht auf ihn zu, und sagt: „ Ich habe hinter Ihnen gehend beobachtet, dass Sie sich manchmal umsehen, kann ich Ihnen behilflich sein?“ Der ältere Herr entgegnet: „Es ist sehr aufmerksam von Ihnen, mich anzusprechen, denn ich bin zum ersten Mal in dieser Stadt, und soeben nach einer längeren Nachtfahrt hier angekommen.“ Er mustert dabei den freundlichen Mann, der einen grauen Anzug mit weißem Hemd und gedeckter Krawatte trägt, und vermutet, dass er in geschäftlichen Dingen unterwegs ist. Daher fügt er hinzu: „Ich hätte schon eine Frage an Sie, aber ich dachte mir, dass Sie, wie die anderen Menschen hier, eilends unterwegs sind, und ich möchte Ihre Zeit nicht zu sehr in Anspruch nehmen. Der junge Mann antwortet beruhigend: „Sie haben recht geraten. Ich arbeite hier in einer Bank und muss zu einer festen Zeit dort sein. Er blickte kurz auf seine Uhr und bemerkt: Für einige Minuten stehe ich Ihnen gern zur Verfügung. Haben Sie denn einen festen Plan, oder kann ich Ihnen auf andere Weise behilflich sein?“
Der ältere Herr scheint erfreut über das Angebot und entgegnet: Ich bin ein neugieriger Mensch, und nach meiner Pensionierung auf einer Reise nach „Irgendwo“ schon einige Monate unterwegs. In letzter Zeit, habe ich mich in Deutschland umgesehen, nun will ich die Schweiz näher kennen lernen. Ich bin hier ausgestiegen, um einige Tage in dieser Stadt zu verbringen, und bin gespannt, was ich hier sehen und erleben kann. Für heute habe ich übrigens keinen festen Plan und kann frei über meine Zeit verfügen. Der junge Mann hatte aufmerksam zugehört und sich gefragt, wie er dem Herrn bei dessen Erwartung helfen könnte? Es schien ein gebildeter Mann zu sein, der schon bessere Tage gesehen hatte. Er entgegnete: „Ihre Lust unsere Stadt kennen zu lernen, erlaubt mir, Ihnen einen vielleicht überraschenden Vorschlag zu machen: Ich arbeite in einer großen Schweizer Bank. Heute ist bei uns zufällig ein Tag der offenen Tür. Sie wissen sicher, dass wir derzeit über die Grenzen hinaus ins Gerede gekommen sind. Könnten Sie sich vorstellen, mich zu begleiten, und sich bei uns einige Stunden umzusehen? Vielleicht könnten ich Ihnen überraschend neue Eindrücke über unsere aktuelle Arbeitsweise vermitteln? Er lächelte Augen zwinkernd, und fügte hinzu: „Sollten Sie ein wenig Reisegeld erübrigen, dann könnte ich Ihnen auch zeigen, wie man bei uns mit kleinen Einsätzen Gewinne erzielen kann.“ Der ältere Herr räusperte sich und sagt: „Ich hab schon einiges über den Börsenhandel gehört, mich aber des Risikos wegen, bisher selbst nicht beteiligt. Ich könnte mir aber durchaus vorstellen, mich bei Ihnen ein wenig umzusehen. Da ich für heute noch keinen festen Plan habe, nehme ich Ihren Vorschlag gern an, Sie zu begleiten.” Inzwischen war es auch höchste Zeit, denn der Handel eröffnete schon bald.
In der Schalterhalle herrschte heute reger Betrieb: Hinter der Theke saßen einige Händler vor ihren Computern. Davor drängten sich viele Kunden, die auf großen Bildschirmen an der Wand, interessiert die Börsenkurse und die verschiedenen Angebote verfolgten. Der junge Mann bemühte sich einige Zeit, dem älteren Herrn zuvorkommend die wichtigsten Abläufe beim Börsenhandel zu erklären. Danach forderte er ihn freundlich auf, vor allem die Geschäfte zu verfolgen, die er an seinem Arbeitsplatz mit Kunden abschloss. Der ältere Herr war beeindruckt von dem Geschehen, ließ sich zwischendurch von hübschen Hostessen mit Speise und Getränken verwöhnen und genoss den Tag der offenen Tür. Am Nachmittag nahm sich der junge Mann noch einmal Zeit für ihn und zeigte ihm anhand seines Tagesgeschäftes, welche Aussichten auf Kursgewinne auch bei Kunden mit geringen Einsätzen bestehen. Er fügte hinzu: „Alle Geschäfte müssen aber immer bis zum täglichen Ende des Handels abgeschlossen sein.“ Der ältere Herr bedankte sich für den informativen Tag und sagt: „Meine Neugier ist befriedigt. Ich benötige heute nur noch ein ordentliches Hotel und Bedenkzeit, ob ich eventuell einen Einsatz wage.
Einige Tage danach betritt der ältere Herr nachmittags wieder die Schalterhalle der Bank. Er begrüßt den jungen Mann, und verfolgt mit wachsendem Interesse die Vorgänge. Wie bei einem Spieler steigt seine Erregung und Anspannung so, dass er sich entschließt, unbedingt noch rasch vor Handelsschluss, ein ihm aussichtsreich erscheinendes Papier zu zeichnen. Aber genau in diesem Augenblicke drängte sich ein Angestellter der Bank so vor ihn, dass er dieses Papier nicht mehr rechtzeitig erwerben konnte. Die Enttäuschung steht ihm ins Gesicht geschrieben. Als ihm der junge Mann nach Handelsschluss auch noch erklärt, dass er beim Kauf des gewählten Papiers in absehbarer Zeit einen Gewinn von 2ooo € zu erwarten hatte, stieg ihm die Zornesröte ins Gesicht, und er erzählte dem jungen Mann die Geschichte mit dem Bankangestellten, der ihm zuvor kam. Er erfährt durch ihn, dass ein solches Vorgehen in ihrem Hause streng verboten sei, denn der Chef sei ein sehr korrekter Mann der großen Wert darauf lege, dass die Bank ihr gutes Ansehen bei den Kunden bewahre.
Genau in diesem Moment erkennt der ältere Herr den Angestellten in der Nähe wieder, der ihm soeben zuvor gekommen war, und nun eilends dem Ausgang zustrebt. Kurz entschlossen, stellt er sich ihm in den Weg und besteht in Gegenwart des jungen Mannes nachdrücklich darauf, die heikle Angelegenheit umgehend mit dem Chef der Bank zu besprechen. Sie werden bei ihm angemeldet. Schon nach wenigen Minuten betreten sie gemeinsam das modern eingerichtete Büro des Chefs. Der alte Herr ist sehr überrascht, in diesem Raum einem ebenfalls älteren Mann zu begegnen, der überdies auf einen Rollstuhl hinter seinem Schreibtisch sitzt. Als der Chef des Hauses, mit weißen, lockigen Haaren, und einem scharf geschnittenen, trotz vieler Falten, jugendlich wirkenden Gesicht, den Besuchern freundlich entgegen rollte, und einladend auf die Sitzgruppe für Besucher verweist, ist der Bann gebrochen. Mit sonorer Stimme sagt der Chef: „Ich habe vernommen, dass Sie ein Anliegen haben, bitte sprechen Sie!“ Der alte Herr schildert nun ausführlich sein Erlebnis mit dem Bankangestellten, durch dessen raschen Vordrängens, ihm ein möglicher Gewinn von 2000 € entgangen sei. Er betont, dass es ihm vor allem wichtig sei, die Leitung des Hauses über diesen Vorfall zu informieren.“
Der Chef der Bank lehnte sich überrascht in seinem Rollstuhl zurück, überlegt kurz und sagt: „Es ist nicht üblich, dass unsere Angestellten in unserem Haus im eigenen Interesse Geschäfte tätigen. Wir legen größten Wert darauf, unsere Kunden zufrieden zu stellen. Ich bitte Sie, den Vorfall zu entschuldigen und uns zu gestatten, Sie für den entgangenen Gewinn zu entschädigen. Zum Angestellten gewendet bemerkt er: „Sie erkennen sicher selbst Ihr Fehlverhalten. Es sollte Ihnen zur Warnung dienen, sich künftig streng an die Hausordnung zu halten und derartige Handlungen zu unterlassen.
Der alte Herr atmete erleichtert auf und sagt: „Ich konnte keineswegs damit rechnen, dass die Angelegenheit einen so erfreulichen Ausgang nimmt. Es ist kaum fassen, dass Ihr Haus für diesen möglichen Schaden aufkommt. Ich kann nur sagen Gott sei Dank – und betrachte das als einen erneuten Beweis dafür, dass ich in allen Lebenslagen mit Schutz und Beistand rechnen darf. Der Chef der Bank sah ihn verständnisvoll an und entgegnet: „Mir scheint, wir sind beide auf der gleichen Zielgeraden unseres Lebensweges angelangt; da lebt es sich leichter, wenn man das eigene Gewissen nicht mehr zu sehr belastet. Ich sage Ihnen als Chef dieses Hauses: Geld ist auch für mich nicht das letzte Wort! Sie verabschieden sich herzlich. Der junge Mann fügt hinzu: Viel Vergnügen bei der weiteren Reise durch die Schweiz!

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