Der alte Mann und die Frau

Gelegentlich begegne ich dem alten Mann, der aufrecht und nachdenklich seinen Weg geht. Seine erkennbaren körperlichen Beschwerden, scheinen ihn nicht besonders zu beeindrucken. Blickt er mich mit seinem von Falten zerfurchten Gesicht, der markanten Nase, dem energischen Kinn und den leicht abstehenden, auf Empfang gestellten Ohren freundlich an, empfinde ich Sympathie und Respekt. Seine fragenden, zugewandten Augen, in denen Güte, Weisheit und Kraft aufleuchtet, fesseln mich immer wieder. Manchmal wirkt er, wenn er ruhig und bestimmt vorwärts schreitet, mitgenommen. Es entsteht aber nie der Eindruck, als könne er in schwierigen Zeiten seine Ziele aus den Augen verlieren. Mit einem Wort: Der alte Mann fasziniert mich. Er scheint ein gutes Herz zu haben. Bei unseren Begegnungen kann ich mich immer ein wenig an ihm aufrichten. Seine Erscheinung ermutigt ohne Worte. Ab und zu wirkt er in sich gekehrt, als ob ihn viele Gedanken bewegten. Ich frage mich immer mehr, was ihn beschäftigt, aus welchen Quellen er lebt und handelt, welche Ziele er verfolgt? Er könnte sicher manche Geschichte aus seinem Leben erzählen. Vielleicht lässt er sich bei unserer nächsten Begegnung ein wenig in seine Seele blicken?

Es überrascht mich nicht sonderlich, den alten Mann, der mich auf meiner Wanderung beschäftigt, nach einer Wegbiegung in der Ferne wirklich zu sehen. Wir sind offensichtlich in der gleichen Richtung unterwegs. Mir wäre es nie in den Sinn gekommen anzunehmen, es könne ihm in seinen Sportschuhen an Tempo gelegen sein. Im Gegenteil. Heute wirkt sein Gang beschwerlicher als sonst, müder aber nicht kraftlos. Langsam, als sei jeder Schritt kostbar, geht er mit Hilfe von Stöcken vorsichtig voran. Der Rücken könnte ihm Beschwerden bereiten. Ab und zu wandern seine Blicke in die umgebende Natur, die gerade jetzt in der Sommerzeit wie eine reife Frau ihre volle Schönheit entfaltet. Die Felder, Wiesen und Wälder stehen stolz in der Tracht ihrer farbenfrohen Gewänder. Ich kann beobachten, wie der Alte die emsigen Bauern freundlich grüßt. Er scheint mit ihnen ebenso vertraut, wie mit den Vögeln, der wärmenden Sonne, dem Plaudern des Baches, den leuchtenden Blumen und duftenden Gräsern am Wegrand. Der alte Mann scheint sich die Zeit zu gönnen, um all die Gaben des Sommers dankbar zu betrachten und die vielfältigen Stimmen der Natur zu genießen. Unvorstellbar für mich, ihn zu einer rascheren Gangart bewegen, zu wollen, denn das könnte ihn ja bei seinen „Geschäften“ stören. Ganz sicher würde er, eine solche Aufforderung ruhig und bestimmt mit der Bemerkung ablehnen, dass er schon oft in gleichem Schritt und Tritt gegangen und angehalten wurde, Tempo aufzunehmen und dies nun getrost den Jungen überlassen könne. Wenn ich seine trotz des höheren Alters durch trainierte Gestalt vor mir sehe, legt sich mir der Gedanke nahe, dass ihm Sport und Bewegung von Kindesbeinen an vertraut sind. Es würde mich gar nicht überraschen, wenn er mir ruhig und stolz erzählte, dass er auch heute noch jeden Tag Gymnastik treibe. Ob er Sportgeräte in seiner Wohnung hat? Überhaupt, wo und wie er wohnt, beginnt mich zunehmend zu interessieren. Ich halte ihn offen gestanden auch für einen Geistessportler und kann mir gar nicht vorstellen, dass er zu Hause nur vor dem Fernseher sitzen könnte. In solchen Gedanken befangen, kommen wir beide uns auf unserem Weg näher. Es fällt mir dabei auf, dass der alte Mann im Gegensatz zu den vielen Frauen, die mir unterwegs begegnen, wenig daran interessiert scheint, sich ein attraktives jugendliches Aussehen zu geben. Er trägt, wie so oft, eine Cordhose und ein leichtes, blaues Wollhemd. Die locker das Haupt umspielenden, leicht schütteren weißen Haare, harmonieren gut mit Blau. Heute lächelt er mich besonders einladend an. Dabei treten seine Lebensringe, die Gesichtsfalten besonders deutlich hervor. Wie viele Jahre mochte er auf dem Buckel haben? Obwohl die Oberlieder der Augen nach Unten drücken, behindern sie seinen freimütigen Blick nicht. Wird es heute zu einem Gespräch kommen? Ich war mehr als bereit dazu. Das zugewandte Antlitz ließ einiges erwarten. Ich lasse die leichte Beklemmung und Unsicherheit, die mich als wir uns auf Augenhöhe begegnen befällt, beiseite, und grüße ihn in der mir möglichen Offenheit mit einem freundlichen »Grüß Gott! «. Er wandte sich mir voll zu und antwortet mit sonoren Stimme: » Grüß Gott, ein wunderschöner Tag ! Sie sind auch schon unterwegs, wie die Bauern auf dem Feld, die zu diesen Wiesen und Äckern gehören! «. Ich hatte mich nicht getäuscht. Er hatte tatsächlich mit den Bauern gesprochen und scheint sie gut zu kennen. Offensichtlich kommt er auch mir sehr entgegen. Der alte Mann scheint sich auf ein Gespräch mit mir zu freuen, und sich dabei gut zu fühlen. Seine Hände und Arme sind von der Sonne gebräunt, das Gesicht leicht gerötet. Der Blick ist zugewandt auf mich gerichtet, als modelliere er meine Gestalt. Ich frage mich, wie alt er sei? Der jugendliche Scharm und die lebhaften Gesten, die seine Worte begleiten, erschweren es, mich auf eine Jahreszahl fest zu legen. Ich gebe es schließlich auf, nachzugrübeln, wie ein Gespräch zwischen einem mehr als ein halbes Menschenleben Älteren und mir verlaufen könnte, welche Regeln da zu beachten wären, und ob er an einem Gedankenaustausch mit mir Interesse haben könnte. Meinen ganzen Mut, die Distanz zu überbrücken, lege ich in die Worte: » Wir sind uns nun schon so oft begegnet und heute begrüßen sie mich besonders einladend, so dass ich mir erlaube, sie zu fragen, ob wir nicht ein wenig gemeinsam wandern könnten? Er schien meine Bitte erwartet zu haben und gab freundlich zurück: Er kenne mich auch nur vom Sehen, das müsse uns aber nicht hindern, mit einander ein wenig zu wandern und zu plaudern. Ihm sei im Moment danach. Der Bann war gebrochen; nun konnte mich nichts mehr hindern mit dem alten Mann zu reden. Er schlug vor, uns Zeit zu lassen, um das auch mir sehr vertraute Tal hinauf durch den Wald den Berg hinan über Zell zurück nach Oppenweiler zu gehen. Ich gab mir Mühe, mich auf sein Tempo einzustellen. Es war nicht einfach für mich, da ich sehr wohl eine raschere Gangart gewöhnt bin. Er schien dies zu bemerken und sagte: » Ist es Ihnen unangenehm, langsam zu gehen? « Ich fühlte mich ein wenig ertappt, sah aber keinen Anlass, etwas zu verheimlichen und antwortete wahrheitsgemäß: » Ich gehe zwar allein viel schneller. Um mich mit Ihnen zu unterhalten, könnte ich mich aber auf ihren langsameren Schritt gut einstellen «. Wir wanderten nun geruhsam den uns bekannten Weg zum Brückle und die Steigung hinauf in den Wald. Der alte Mann nahm mir die Bürde ab, das Gespräch zu beginnen, und verwies auf seine beiden Stöcke: » Diese Hilfen benötige ich erst seit zwei Jahren. Nun wohne ich mit meiner Familie seit fünfundzwanzig Jahren hier in Oppenweiler. Den Weg, den wir zusammen gehen, bin ich früher im flotten Tempo gerannt. Mir ist fast jede Grasnarbe am Wegesrand bekannt. Ich hatte mir damals mein Laufpensum in Intervalle eingeteilt. Es war mir wichtig, die Strecke möglichst in immer kürzerer Zeit zu bewältigen. Ich stieg auch gern auf mein Rennrad, vergnügte mich beim Schwimmen, Tennisspiel und beim Wintersport. Gut dass ich das alles kenne, denn von all dem sind heute nur die tägliche Gymnastik und das geruhsame Wandern übrig geblieben. Es hat mich aber sehr gekränkt, als ich nach und nach alle die mir lieben Sportarten nicht mehr ausüben konnte. Nun bin ich jedoch so weit, Ihnen und denen, die schneller gehen oder rennen können, dies Vergnügen von Herzen zu gönnen, denn ich entdeckte, dass ich beim langsamen Gehen sehr viel mehr erleben kann. Erst in diesem Jahr habe ich all das, was auf einem gemütlichen Spaziergang geschehen kann, in einer Erzählung beschrieben «. Der alte Mann kam so richtig in Fahrt, als er von seinen vielen Sportarten erzählte, die ihm offensichtlich früher Freude bereiteten. Er schien dabei gar nicht zu bemerken, dass uns beide mehr als ein halbes Menschenleben trennt. Dies ermutigte mich, ihm zu gestehen, dass ich mir bereits überlegt hätte, ob er sportlich interessiert sein könnte und dass ich mich schon länger frage, wie alt er wirklich sein könnte. Er gab mir zur Antwort: » Mit fünfundsiebzig Jahren habe ich meine berufliche Tätigkeit beendet und die Praxis abgegeben. Nun bin ich seit zwei Jahren im Ruhestand und ununterbrochen dabei zu lernen, mit der zur Verfügung stehenden Zeit sinnvoll um zu gehen. Bei einer meiner mir sehr wichtigen Beschäftigungen, den Wanderungen um Oppenweiler herum, haben wir uns ja kennen gelernt. Wenn Sie wollen, dann schenke ich Ihnen gerne die Erzählung von mir, damit Sie entdecken können, was dieser Weg mit dem Blick auf den „Reichenberg“ und über Zell zurück im Wechsel der Jahreszeit zu bieten hat «. Ich war nun doch überrascht. Kaum zu glauben, dass dieser lebhafte und interessierte Mann schon siebenundsiebzig Jahre alt sein sollte. Für einen Moment wünschte ich mir selbst, dass ich einmal ebenso lebendig und bei Kräften sein dürfte, wenn ich so alt wäre. Ich gab ihm wahrheitsgemäß zur Antwort: » Ich hatte erwartet, dass Sie höchstens auf fünfundsiebzig Lebensjahre zu gehen. Umso erfreulicher sei es für mich, so miteinander reden zu können, als gäbe es keinen Altersunterschied zwischen uns. Ich spüre auch eine gewisse Ähnlichkeit zu Ihrer Lebenssituation: » Seit Jahren bin ich in einem ständigen Lernen und stehe mit meinem Biologie- und Chemiestudium zur Zeit im Examen mit all seinen Unwägbarkeiten und den Problemen, die auch danach auf mich zukommen. Es gibt noch eine weitere Ähnlichkeit. Bei meinen zeitlich aufwendigen Studien komme ich selten zum Ausgleichssport. Es wäre schon viel gewonnen, wenn ich wie Sie, täglich gymnastische Übungen durchführte. Daher nehme ich mir jetzt wieder fest vor, für sportliche Interessen mehr Zeit einzuplanen, damit ich mir später den Vorwurf ersparen kann, etwas versäumt zu haben «.

Das Eis war gebrochen. Das unterschiedliche Alter spielte nun keine Rolle mehr. Ich war wie befreit von einer Last. Der alte Mann hatte wirklich eine Fähigkeit, Distanz abzubauen, um ein offenes Gespräch zu ermöglichen. Er schien auch keine Scheu zu haben, mich als junge Frau ernst zu nehmen. Im Gegenteil. Er empfand offensichtlich Vergnügen dabei mit mir Erfahrungen auszutauschen. Das nun spürbare Vertrauen erlaubte mir eine weitere Frage zu stellen: » Ich habe mehrfach beobachtet, dass Sie mit den Bauern auf dem Feld reden. Es schien so, als ob Sie deren Tätigkeit zu schätzen wüssten «. Er schaute mich wohlwollend an und erklärte: » Das wäre eine längere Geschichte. Wenn sie wollen, dann schenke ich Ihnen eine Erzählung, die davon berichtet, wie ich in den Kriegsjahren bei meinen Verwandten auf dem Hotzenwald die Arbeit in der Landwirtschaft in Feld und Wald rund ums Jahr kennen lernte. Sie haben richtig beobachtet, ich schätze die fleißigen Bauern unserer Umgebung sehr und lasse keine Gelegenheit aus, sie das spüren zu lassen. Kenne ich doch die Mühen und Liebe zur Scholle aus eigener Erfahrung. Dies gilt übrigens für alle „Werktätigen“ hier am Ort. Ohne die Menschen in den Betrieben Büros, der Verwaltung, im Gesundheitswesen und den Behörden, ohne unsere Lehrer, Mütter Putzfrauen und Müllmänner könnten wir nicht so leben, wie wir es heute gewohnt sind. Davon, schränkte er ein, steht aber wenig in den Gazetten. Und auch die Medien sprechen kaum von diesen Helden des Alltags, die sich engagiert in Staat und Gesellschaft einsetzen «. Ich erschrak ein wenig bei dem Gedanken, dass so viele Menschen auch für mich tätig sind, an die ich bisher wenig gedacht hatte. Gab dann etwas betroffen zur Antwort: » Offensichtlich hatte ich Sie richtig eingeschätzt, denn ich bemerkte, wie freundlich Sie mit den Bauern sprachen. Dass Ihnen die vielen anderen Berufstätigen aber genau so wichtig sind, hat mich sehr berührt. Denn offen gestanden, darüber habe ich bisher wenig nachgedacht «. Der alte Mann verzog sein Gesicht zu einem gnädigen Schmunzeln und entgegnete: » Seien Sie unbesorgt, in Ihrem Alter, sie haben mir ja noch nicht gesagt, wie „ jung“ Sie wirklich sind, machte ich mir über manches, was mich heut bekümmert, ebenso wenig Gedanken. Da hatte auch ich andere Interessen. Sie haben ja noch ausreichend Zeit vor sich und sollten sich keine Vorwürfe machen «. Der alte Mann stand für mich plötzlich nicht mehr auf einem Sockel. Wir begegneten uns auf „Augenhöhe“. Er verlor zwar einige Lorbeerblätter aus dem Kranz meiner Idealisierung, den ich ihm aufgesetzt hatte, gewann dafür aber umso mehr menschliche Züge. Es brauchte sicher einige Jahrzehnte, um nicht nur weiße Haare sondern auch diese Altersweisheit zu bekommen. Wie tröstlich für mich. Ich gab zur Antwort: » Es ist schön zu wissen, dass ich neben dem Leistungsstress im Studium nicht auch noch in einen Wettkampf zur Aneignung von Altersweisheit einsteigen muss und dass mir dazu mit meinen fünfundzwanzig Jahren -jetzt wissen Sie auch wie alt ich bin- noch genügend Zeit bleibt. Ich kann mir jetzt bei Begegnungen mit älteren Menschen, die ich gelegentlich bewundere sagen, dass sie alle auch einmal jung waren. Noch mehr: Dass Älterwerden nicht dazu führen muss, jeglichen jugendlichen Elan und Scharm zu verlieren. Eine durchaus tröstliche Vorstellung. Der alte Mann blieb unvermutet stehen, wirkte sehr nachdenklich und sagte: » Wissen Sie das mit „Jung und Alt“ ist so eine Sache. Ich erinnere mich sehr gut an die Zeit, als ich mit fünfundzwanzig Jahren Stadtrat war und eine kleine Partei führte. Damals hatte ich mir -bildlich gesprochen- bereits die Pantoffeln unveränderlicher Grundhaltungen eines Opas übergestreift. Demgegenüber bin ich heute trotz fester Überzeugungen in einer weltoffenen Haltung wieder jünger geworden. Es gibt offensichtlich „alte Junge und junge Alte“. Ein Grund mehr, um über die Altersgrenze hinweg miteinander im Gespräch zu bleiben. Übrigens geschieht das gerade eben im Kontakt mit Ihnen «. Dieser spontane Dialog mit dem jungen-alten Mann hatte es für mich in sich. Ich kannte Diskussionen über die „Älteren“ in unseren Kreisen bisher nur unter der Fragestellung, welche Einschränkungen es für uns „Junge“ bringen müsse, die immer größere Zahl der Rentenempfänger durch zu füttern. Hier tauchte nun eine völlig neue Sicht der Begegnungen und des Austausches zwischen den Generationen auf. Ich gab zur Antwort: » Offensichtlich gilt es zu prüfen, wer von den Alten oder Jungen die Pantoffeln festgelegter Meinungen in der jeweiligen Situation angelegt hat. Hoffnung macht mir allerdings der Gedanke, dass sich Vorstellungen ausgleichen und unter Umständen verändern lassen. Ich frage mich im Moment auch, ob wir es uns gesellschaftlich auf Dauer leisten können, auf die Lebenserfahrungen anderer oder älterer Menschen zu verzichten «. Jetzt fiel mir der jung gebliebene Alte spontan ins Wort mit der Bemerkung: » Das mit dem Lernen gilt sicher auch in umgekehrter Richtung: Eine sehr wichtige Erfahrung beim Einstieg in den Ruhestand war für mich der Umgang mit den neuen Medien. Ich muss ehrlich gestehen, dass meine Töchter mit dem PC, Handy, Fernsehen und deren Speichermedien, mit Digitalkameras etc. beneidenswert gut um zu gehen verstehen. Es ist nicht zu beschreiben, wie oft ich bei meinen Jungen in die Lehre ging, um nur einige der wichtigsten Funktionen, der Geräte zum Medienzugang und damit zum Kontakt mit anderen Menschen zu erlernen. Das gilt natürlich querbeet für alle Bereiche unserer Wirtschaft und Gesellschaft. Es ist zur Bewältigung der vielfältigen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Probleme lebenswichtig, dass wir uns in einem lebenslangen Lernen mit anderen Menschen austauschen. Ich bin Ihnen aber vorhin ins Wort gefallen. Wollte sie jedoch Ihrem Gedankengang nicht völlig unterbrechen «. Ich gab zur Antwort: » Es hat mich nicht sonderlich gestört, eher erfreut zu hören, dass wir Jungen auch etwas zu bieten haben und dass wir mit unseren Fähigkeiten gebraucht werden. Ich kenne die Notwendigkeit zur Arbeit in der Gruppe und dem erforderlichen Informationsaustausch sehr gut vom Studium her. Wir werden dort sorgfältig auf die Vernetzungen im beruflichen Umfeld und die Teamarbeit vorbereitet. Weniger bekannt waren mir bisher die Probleme des Ausstiegs aus dem Berufsleben in den Ruhestand. Aber das hat ja noch seine Zeit. « Der junge-alte Mann entgegnete: » Wenn es unseren Spaziergang nicht zu sehr beeinträchtigt und Sie Interesse haben, erzähle ich Ihnen gern etwas von den Hauptproblemen beim Wechsel in den Ruhestand:

Zunächst fällt beim Übergang in den Ruhestand, der zuvor im beruflichen Alltag vorgegebene Zeitrahmen mit all den im Arbeitsumfeld gegebenen Kontakten weg. Es wird schmerzlich deutlich, wie sehr der Beruf nicht nur belastete sondern auch geliebt wurde. Dieser Abschied und die Trennungserlebnisse können Trauer und depressive Verstimmungen auslösen. Dann sind Bewältigungsstrategien angesagt: Es gilt
eine neue Struktur des Tagesablaufs mit Sinn füllenden Aufgaben in der verfügbaren Zeit aufzubauen. Gesundheitliche Beeinträchtigungen und sie begleitende Kränkungserlebnisse schränken den Verhaltens-spielraum zusätzlich ein. Neue Kontakte und tragfähige Beziehungen zu Mitmenschen sind zu beleben oder auf zu bauen. Die Auseinandersetzung mit der letzten Lebensphase und den damit verbundenen Grenzen, letztlich dem unausweichlichen Tod, stehen auf der Tagesordnung. Hinzu kommen zunehmend Erlebnisse mit einer Vielfalt verinnerlichter Erfahrungen aus der eigenen Vergangenheit und ein Universum von Möglichkeiten im äußeren Umfeld. Dies alles ist verbunden mit gelegentlich starken Stimmungsschwankungen, notwendigen Begrenzungen und Entscheidungen. Es gilt zudem den eigenen Haushalt zu führen oder in Arbeitsteilung mit dem Partner neu zu definieren. Die Umstellung in den Ruhestand betrifft die ganze Person und erfordert stetige Anpassungsprozesse, um die eigene Identität immer wieder neu zu stabilisieren. Es ergeben sich zudem bedeutsame Veränderungen in der Familienstruktur. Die Beziehungsmuster zu den selbstständigeren eigenen Kindern und Enkeln sind immer wieder neu den aktuellen Gegebenheiten anzupassen und müssen mit der eigenen Rolle als Großeltern harmonisiert werden. Die Gespräche mit Gleichaltrigen zum Austausch über die anstehenden Fragen gewinnen an Bedeutung. Bedürfnisse nach Erlebnissen in Kunst, Musik, Literatur, Wissenschaft und Politik sind mit anderen Erfordernissen des Alltages auszugleichen. Fragen der weltanschaulichen und religiösen Bindung, des eigenen Wertesystems, des Sinnes im Ganzen des Daseins und Erfahrungen des Verlustes von Personen durch Tod im Umfeld bei gelegentlich zunehmenden eigenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen müssen verarbeitet werden. Hinzu kommt die Sorge um die Zukunft der Nachkommen, der Werteordnung in unserer Gesellschaft und die Sicherung der finanziellen Basis. Ein allzu sanftes Ruhekissen ist der „Unruhestand“ nicht. Ich bin nun seit zwei Jahren nicht mehr im Beruf tätig, mit all diesen Fragen aber noch keineswegs im Gleichgewicht. Hierfür brauche ich sicher noch mehr Zeit. Es ist aber wichtig, darüber gelegentlich zu sprechen und es hat mir sehr wohl getan, Sie mit „ diesen reichlichen Andeutungen“ nicht erkennbar überfordert zu haben. Es ist von mir geplant, diesen Kontext noch einmal in einem Essay für Betroffene zu untersuchen und ausführlicher dar zu stellen«. Ich musste während der engagierten Erzählung des jungen-alten Mannes mehrmals tief Luft holen, hätte Fragen stellen, Einzelheiten erfahren wollen, hatte aber nicht den Mut, ihn zu unterbrechen, denn ich bemerkte, wie bedeutsam dies alles für ihn ist. Da sprach kein dem Leben abgewandter alter Mann, sondern ein engagierter Mensch, der mit wachem Bewusstsein die ihm altersgemäß gestellten Aufgaben zu bewältigen sucht. Ich fühlte mich ihm sehr nahe, denn in meiner anders gearteten Lebenszeit stellen sich auch mir eine Fülle von Fragen, die nicht nur das Studium, sondern auch die Lebensgestaltung unter sich stetig ändernden Umgebungsbedingungen betreffen. Ich erkannte im Gespräch mit dem alten Mann wieder verstärkt, dass wir auf allen Ebenen unserer Gesellschaft mehr mit einander reden sollten, nicht nur um unser Wissen zu erweitern, sondern um uns gegenseitig bei der Bewältigung der Lebensprobleme beizustehen. Die Hoffnung wurde im Dialog mit dem jungen-alten Mann bestärkt, dass wir im gegenseitigen Austausch von den unterschiedlichen Erfahrungen profitieren könnten.

Ich gab zur Antwort: » Wie sie sicher auch bemerkten, sind wir auf unserer gemeinsamen Wanderung eben eine Weile stehen geblieben. Ihre Ausführungen waren so spannend. Ich war verschiedentlich versucht, nachzufragen. Das muss aber auf diesem unserem heutigen Spaziergang nicht mehr geschehen. Ich danke Ihnen sehr für Ihr Vertrauen, mir das alles zu erzählen. Nie habe ich Sie in diesem Gespräch in einem belehrenden, mich beschämenden Tonfall erlebt. Ich sah mich eher als Ihre Gesprächspartnerin, mit der es sich auch für Sie lohnt, sich mit mir zu unterhalten. Wann und wie es aus diesem Gespräch konkrete Ansatzpunkte gibt, von denen ich profitieren kann, ist im Moment noch nicht zu erkennen. Die Vorstellung vom alten Mann und meinen Möglichkeiten als junger Frau hat sich aber geändert. Ich kann mir nach diesem Gespräch eher vorstellen, dass wir alle von einander lernen können. Es gibt für mich nicht nur den Gene-rationen-Konflikt sondern auch die Chance zu einem gewinnbringenden Dialog, getragen von gegenseitigem Respekt und Achtung. Ich schlage vor, die verbleibende Wegstrecke schweigend miteinander zu wandern. Und sollte noch eine Frage auftauchen, dann mag sie ruhig ausgesprochen werden. Aber einen Wunsch habe ich: Ich möchte bei passender Gelegenheit mit Ihnen wieder einmal um Oppenweiler herum spazieren «. Der junge-alte Mann schaute mich sehr freundlich an sagte nur: danke! Ich bin mit Ihrem Vorschlag einverstanden «. Innerlich „Hand in Hand“ gingen wir beide schweigend weiter. Ich bat ihn beim Abschied, nicht zu vergessen, mir die versprochenen Erzählungen zu geben. Er sagte erfreut zu.

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