Fichten

Von meinem Arbeitszimmer aus kann ich das ganze Jahr über  unsere drei Fichten in Garten sehen. In diesem Augenblick werden sie von der Sonne, die sich hinter diesigen Wolken verbirgt, so belichtet, dass sich ihre Konturen vor dem hellgrauen Hintergrund deutlich abheben. Leider habe ich sie, in Aufgaben vertieft, oft übersehen. Sie nehmen mir das aber nicht übel, denn sie wissen, wie innig ich sie auch gelegentlich betrachte. Im Laufe der Zeit sind wir sogar Freunde geworden. Vor Jahren konnte ich ihre grazile Gestalt, von meinem   Schreibtisch aus, in ihrer vollen Größe bewundern. Inzwischen sind sie  so gewachsen, dass ich ihre Spitzen beim Blick durch das Fenster nicht mehr erkennen kann. Daher muss ich mich vor ihnen verneigen, damit der obere Fensterrahmen ihnen nicht die Spitzen abschneidet. Jetzt bekomme ich Ihre volle Schönheit in den Blick. Wir verweilen in gegenseitiger Freude ein wenig beieinander, und schenken auch der Umgebung unsere Aufmerksamkeit.

Nach warmen Nachsommertagen, hat sich die Natur bei uns nur sehr zögerlich der Jahreszeit angepasst. Bäume und Büsche legten, nach einem letzten kraftvollen Aufglühen, ihre herbstlich-bunten Blätter ab. Nun zeigen sie uns ihr Innenleben, ihre vielfach gekrümmten Äste und Zweige. Obwohl wir mit dem steten Wandel in der Natur vertraut sind, beschleicht uns, wenn der Herbst einzieht, eine leichte Wehmut.  Manchmal versuche ich mir dann vorzustellen, wie es wäre, wenn sich Pflanzen, Büsche und Bäume im Laufe der Jahre nicht veränderten. Es würde uns etwas fehlen, wenn wir nicht in den wiederkehrenden Jahreszeiten, wie bei den Gezeiten am Meer, inmitten des Wandels, Geborgenheit erleben dürften.

Mein Blick wandert nun wieder zurück zu den drei Fichten in unserem Garten. Sie und all die Blumen, Büsche und Bäume um unser Haus, die uns während des Jahres erfreuten, verdienen unseren Dank; vor allem dafür, dass sie nicht über unsere mangelnde Aufmerksamkeit klagen. In ihrer stillen Würde und Großmut stehen die Fichten vor mir, um uns  tröstend zu sagen, dass es gelegentlich nur schien, als hätten wir sie und die anderen Bewohner des Gartens aus den Augen verloren. Wir seien doch schon lange gute Freunde, die sich des Wohlwollens auch ohne Worte und Blicke sicher wären. Ein sanfter Wind lässt sie erschauern, als ob sie sich über unser Interesse freuten.

Während wir mit einander reden, drängt sich die Sonne in unser wortloses Gespräch. Sie hat uns belauscht und legt Wert darauf, nicht übersehen zu werden. Um das zu unterstreichen, gibt sie sich am diesigen Himmel hinter den drei Fichten etwas klarer zu erkennen. Verlegen gestehen wir, dass sie selbstverständlich, wie eine treue Freundin von Kindesbeinen an, zu uns gehöre. Wer wollte sich nicht gern mit einer so vornehmen Dame  unterhalten? Wenn sie sich zeigt, löst sie ja wie durch Zauberhand, immer Freude in uns aus. Wir bewundern in stiller Schau ihr gutes Aussehen und ihre Kraft, die uns und der Natur, Tag für Tag und Jahr für Jahr Licht, Wärme und Leben spendet.

Für einen Augenblick fesseln mich wieder die geliebten Fichten. Sie strecken und räkeln sich im Licht der Abendsonne und zeigen stolz, ihre betend nach oben weisenden grünen Zweige. Es scheint, als würden sie sich über die Unterhaltung zwischen uns und der Sonne sehr freuen. Sie bestehen aber auf ihrer Eigenart, nicht wie andere Pflanzen im Garten, im Herbst und Winter die Blätter zu verlieren, und, wie die Sonne, das ganze Jahr über bereit zu sein, sich mit uns zu unterhalten.

Ohne unsere drei Fichten im Garten, wären wir bedeutend ärmer. Ihnen kann, fest verwurzelt, Wetter und Wind wenig schaden. Sie lassen sich selbst im Winter die gute Laune nicht nehmen, und bewahren auch unter ihren Schneemänteln, wie die Christbäume, ihr ansehnliches Grün. Den Vögeln, die hier überwintern, bieten sie ein sicheres Versteck, und uns das Vergnügen, deren munteres Spiel zu beobachten. Wir freuen uns schon darauf, alle im nächsten Frühjahr wieder bei uns zu sehen. Einstweilen streuen wir den Gästen, die hier bleiben, in der kalten Jahreszeit Futter aus. Wir wollen uns dadurch bei allen unseren Vögeln für deren Flugkünste, den Gesang, und das Gezwitscher, während des Jahres bedanken.

Die kahl gewordenen Büsche und Bäume im Garten, die unseren herbstlichen Kummer spüren, mahnen uns wortlos, sie vor Einbruch der kalten Jahreszeit noch einmal genau anzuschauen. Sie deuten auf ihre zarten Triebe, um uns daran zu erinnern, dass sie jetzt schon darauf warten, den Winter gut zu überstehen, um im nächsten  Frühjahr, in der wärmenden Sonne, wieder zu neuem Leben zu erwachen. Alle Freunde in der uns umgebenden Natur, sollen aber wissen, dass wir für viele Jahre des stillen Beisammenseins dankbar sind. Wir werden uns in der bevorstehenden Winterruhe nicht aus den Augen verlieren und öfters an einander denken.

Die Sonne versinkt nun zusehends am Horizont. Von unseren drei Fichten ist nichts mehr zu sehen; die Dunkelheit hat sie verschluckt. Sie sind aber ganz sicher noch da, wie die Sonne, die sich schlafen legt, um uns nach wenigen Stunden der Nachtruhe, bei Tageslicht wieder zu neuem Leben zu erwecken, und in der langen Winterzeit zu begleiten.

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Die Schönheit Gottes

Wir sprechen in vielfacher Form und in vielen Sprachen zu, von und über Gott. Die nachösterliche Zeit und der Herbst des Lebens  geben uns Anlass darüber nachzudenken, was Auferweckung von den Toten und das neue Leben für uns in unserem Alltag bedeuten könnte?

Wer kennt sie nicht die Schatten des Todes, lebensfeindliche Antriebe, die unseren Impuls zu einem befreiten Leben im Glauben behindern möchten. All dem, was gottwidrig ist haben wir jedoch in der lebenslangen Erneuerung unseres Versprechens in der Liturgie der Osternacht widersprochen. Wie aber finden wir hinein in die Freude über die Schönheit Gottes als mit, durch und in Jesus Christus Auferweckte?

Ich mag mich erinnern, dass ich von Kindheit an eine erhabene Vorstellung kenne, die sich im Laufe meines Lebens zu einem sehnsuchtsvollen Bedürfnis entwickelte, Gott SEINE überwältigende Schönheit, das heißt IHN über alle unsere Vorstellungen hinaus
in Ewigkeit Gott sein zu lassen. Wie Gott unser himmlischer Vater ist, das erfahren wir immer wieder neu in der Begegnung mit Seinem Sohn unserem Herrn und in der Kraft des Heiligen Geistes.

Die unbedingte Forderung „Du sollst den Herrn Deinen Gott lieben……“ möchte ich durch die Kirche belehrt, in nachösterlicher Freude  gern ersetzen durch die Worte „Wir dürfen den Herrn unseren Gott lieben……“ Nicht mehr die Haltung des Streites, sondern des respektvollen Wanderns mit Gott durch diese Zeit in alle gottgewollte Ewigkeit.

Gott befohlen

Euer Franz

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Die Rettung

Friedrich ist mit seiner Familie in eine belebte Stadt umgezogen. Sie leben dort schon mehrere Jahre. Er schätzt es nicht besonders, sich mit der Familie im Strom der Besucher treiben zu lassen zu lassen, und die wechselnden Auslagen der Geschäfte zu betrachten. An Musikern, die an der Straße bei swingenden Jazz ihre Solisten in Szene setzen, kommt er aber selten vorbei. Von Jugend an gehört Musik zu seinem Leben und Rhythmus liegt ihm im Blut. Die Familie hat sich mit dieser Vorliebe des Vaters und auch damit versöhnt, dass Buchläden auf ihn eine magische Anziehungskraft ausüben. Er kennt und schätzt aber auch die ruhigen Orte in der Stadt. Er genießt es, unter Menschen zu sein, die Männer, Kinder, und flanierenden hübschen Damen zu beobachten, und das pralle Leben auf sich wirken zu lassen

Friedrich ist für seine unersättliche Neugier bekannt, und wählte mit Bedacht diese große Stadt, denn hier konnte die Familie erwarten, ein den Neigungen und Interessen entsprechendes kulturelles Angebote vorzufinden: Es gab kurze Wege zur Arbeit, den Schulen, dem Markt, den Lebensmittel- und sonstigen Geschäften. Gelegentlich besuchte er als Gasthörer mit seiner Frau Vorlesungen an der Universität. Mit der Zeit entdeckte die Familie auch den Zoo und die verschiedenen Museen. Ihr besonderes Interesse galt aber der Musikhochschule. Dort hatten sie ihre Freude daran die talentierten Studenten bei ihren Konzerten zu erleben und zu applaudieren. Der umsichtigen Mutter oblag es, den Besuch des Theater, Balletts, der Konzerte, Einkäufe und Kinderattraktionen mit den anderen familiären Verpflichtungen in Einklang zu bringen.

Trotz aller Vorteile, die das Stadtzentrum bot, entschloss sich aber die Familie noch einmal zu einem Umzug. Ein Wohnungsneubau am Rande der Stadt, sollte im nächsten Jahr bezugsfertig sein. Das Stadtzentrum und das nahe gelegene Erholungsgebiet waren daher von hier leicht zu erreichen. Es ist ein sonniger Herbsttag, gerade noch warm genug, um sich in einem der Straßencafés bei Kuchen und Tee vom heutigen Spaziergang auszuruhen. Das Gespräch des Ehepaares verläuft träge; sie benötigen beide eine kleine Pause, um die Eindrücke der letzten Stunden zu überdenken. Da richtete sich Friedrich plötzlich auf; er schien von irgendetwas fasziniert zu sein. Seine Frau bemerkt dies, und unterbricht das Schweigen mit der Frage: „Hast Du etwas entdeckt?“ Ohne sich umzuschauen antwortete er, mit der Hand in eine bestimmte Richtung deutend: „Wenn mich meine Augen nicht trügen, dann sehe ich Peter und Doris, unsere Freunde. Es scheint, dass sie heute den schönen Herbsttag auch genießen. Schau, dort kommen sie direkt auf uns zu, schick gekleidet, Arm in Arm, wie ein verliebtes Paar. Doris hat uns schon bemerkt, sie winkt uns  freundlich zu. Wie schön, dass   wir ihnen hier noch freie Stühle anbieten können.“ Doris und Peter kommen näher, begrüßen Friedrich und die Kinder, nehmen Platz, und bestellen sich Kaffee. In Kürze ist ein munteres Gespräch im Gange.

Die beiden Damen rücken enger zusammen, führen das Wort, und beginnen unter lebhaften Gesten ein Gespräch über die aktuelle Herbstmode und die Möglichkeit, im endenden Sommerschlussverkauf ein „Schnäppchen“ zu machen. Ihre Männer hatten keine Chance, und zu wenig Kenntnisse im Detail, um sich in das Gespräch der Damen einzubringen. Sie fanden aber bald ihre Sprache wieder, und ein beidseits interessierendes Thema.

Friedrich und Peter kannten sich schon lange, sodass sie sich nicht mehr scheuten, auch persönliche Erlebnisse anzuvertrauen. In Rede und Gegenrede lief ihr Gespräch -wie von selbst- auf das Thema zu, dass es unter Menschen im Alltag immer wieder Konflikte gebe, die zur Lösung einen Ausgleich der Interessen erforderten. „Solche Problem kenne ich gut, “ bemerkte Friedrich. „ Und ich erinnere mich gerade, wie schwer es mir früher gefallen ist, über so etwas „Peinliches“ mit anderen zu reden. Ich hatte Angst, missverstanden zu werden, und verschloss mir oft den Mund. „Das kenne ich auch, entgegnete Peter, aber ich habe mich zum Glück in dieser Hinsicht geändert. Friedrich schüttelte leicht den Kopf und entgegnete: „Manchmal aber, und das ist für mich die schwierigere Situation, hilft auch ein Gespräch nicht weiter, sondern erschwert nur die Verständigung. Bei einem derartigen Konflikt, kam mir  aber zum Glück einmal das „Unbewusste“ zur Hilfe.“ „Kannst Du mir näher erklären, was Du damit meinst, damit ich Dich besser verstehen kann, entgegnete Peter?“ „Ich will es versuchen, antwortete Friedrich“: „Ich habe Dir vor einiger Zeit schon einmal davon erzählt, dass ich manchmal in Träumen Hinweise bekomme, wie ich mit einer schwierigen Lebenssituation umgehen könnte.“

Dazu fällt mir ein Beispiel ein: „Nach einer schwierigen Situation, hatte ich in der Nacht folgenden Traum: Ich befinde mich in einer großen Stadt. Dort ist ein mehrstöckiges Wohn- und Geschäftshaus im Bau. Von der Planung, über den ersten Spatenstich, bis zur Vollendung der letzten Decke verfolgte ich im Traum interessiert, den Fleiß und die Sorgfalt der Bauleute bei ihrer Arbeit. Der Dachstuhl des Gebäudes war noch nicht aufgerichtet.“ Friedrich machte hier eine kurze Pause, schaute sich nach den Damen um, und stellte befriedigt fest, dass ihnen der Gesprächsstoff noch nicht ausgegangen war.

Dann setzte er seinen Traumbericht fort: „Das besagte Haus lag in einem neu erschlossenen Gebiet am Rande einer Stadt. Die Zufahrten und die Parkplätze waren bereits vorhanden. In einiger Entfernung grenzten nur wenige, kleine Wohn- und Wochenendhäuser, an dieses Neubaugebiet. Zufrieden betrachtete ich im Traum den gelungenen Neubau, in den ich mit meiner Familie einziehen wollte. Dann ging ich daran, mich am Außengerüst empor zu hangeln. Ich gelangte glücklich oben an und blickte von dort aus, hoch erfreut, über die sich vor meinen Augen ausbreitende große Stadt. Nach einer Weile, versuchte ich im Traum wieder nach unten zu gelangen. Mit der linken Hand bekam ich aber eine Gerüststange nicht zu fassen, sodass ich nur noch an einer Hand über dem Abgrund hing. Der Schreck legte sich erst wieder, als es mir gelang, mich mit Mühe wieder auf das Baugerüst hinauf zu schwingen. Ich dankte Gott für diese „Rettung“, und war erst wieder beruhigt, als ich nach dem sicheren Abstieg wieder festen Boden unter den Füßen hatte. Dort traf ich im Traum mit einem Mann zusammen, dem ich den Vorfall und die glückliche Rettung aus großer Not berichtete. Wir stellten in einem freundlichen Gespräch fest, dass er als Ingenieur den Neubau begleitete, und auch ich einmal lange in einer Baufirma arbeitete. Als „ Männer vom Bau“ verstanden wir uns gut und vereinbarten, uns noch einmal zu einem  ausführlicheren Gespräch zu treffen.“

Nach dieser Schilderung atmete Friedrich befreit auf, als ob er gerade eben noch einmal aus einer Notlage gerettet worden sei. Peter fügte hinzu: „Dank Dir Friedrich für das Vertrauen, mir den Traum von der glücklichen Rettung zu erzählen. Könnte es sein, dass Du Dich darauf verlassen kannst, dass Dir dieser Traum daran erinnert, dass Du auch in einer schwierigen Lage einen Retter zur Seite hast, der Dich vor einem Absturz bewahrt, auf den Du Dich genauso verlassen kannst, wie auf mich, Deinen Freund, dem Du, ohne Angst missverstanden zu werden, heute Deinen Traum erzählen konntest.“ „ Ich glaube, wir brauchen alle manchmal Die Hoffnung, einen Absturz zu überleben und einen guten Freund, der uns versteht. Einen Weg aus schwieriger Lage zu erkennen, ist  immer tröstlich, entgegnete Friedrich. Dank auch Dir Peter für Dein Verständnis!“.

Das „Männergespräch“ war damit zu Ende. „Wir sollten uns aber nun auch wieder unseren Frauen zuwenden, bemerkte Friedrich“. Darauf entgegnete Peter: „Schau einmal hin, wie vergnügt die beiden sind, dass sie sich so lange von uns ungestört über die neueste Mode und andere Dinge unterhalten konnten. Mir scheint, Ihnen hat in der Zwischenzeit nichts gefehlt.“ „Da könntest Du Recht haben, entgegnet Friedrich.“ Es erübrigte sich für die Herren, die Damen nach Inhalten ihres noch andauernden Gesprächs zu fragen.

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Eine fantastische Reise

Am frühen Morgen eines Septembertages hält der Zug. Der Bahnhof einer großen Stadt liegt im diesigen Licht der Neonleuchten. Lebhafter Verkehr herrscht auf den Bahnsteigen. Viele Menschen eilen zu ihren  Arbeitsplätzen. Nur einige Fernreisende mit  größerem Gepäck sind zu sehen.

Dem Zug entsteigt ein älterer Herr. Er gähnt, reibt sich die Augen, und schaut sich orientierend um. Dem aufmerksamen Beobachter fällt auf, dass er nur eine kleine Reisetasche bei sich führt. Aufrechten Ganges strebt der gut gekleidete Herr dem Ausgang zu. Gelegentlich bleibt  er wie in Gedanken stehen.

Ein junger, freundlicher Mannbemerkt den Herrn, geht auf ihn zu, und sagt: „ Ich habe hinter Ihnen gehend beobachtet, dass Sie sich manchmal umsehen, kann ich Ihnen behilflich sein?“ Der ältere Herr entgegnet: „Es ist sehr aufmerksam von Ihnen, mich anzusprechen, denn ich bin zum ersten Mal in dieser Stadt, und soeben nach einer längeren Nachtfahrt hier angekommen.“ Er mustert dabei den freundlichen Mann, der einen grauen Anzug mit weißem Hemd und gedeckter Krawatte trägt, und vermutet, dass er in geschäftlichen Dingen unterwegs ist. Daher fügt er hinzu: „Ich hätte schon eine Frage an Sie, aber ich dachte mir, dass Sie, wie die anderen Menschen hier, eilends unterwegs sind, und ich möchte Ihre Zeit nicht zu sehr in Anspruch nehmen. Der junge Mann antwortet beruhigend: „Sie haben recht geraten. Ich arbeite hier in einer Bank und muss zu einer festen Zeit dort sein. Er blickte kurz auf seine Uhr und bemerkt: Für einige Minuten stehe ich Ihnen gern zur Verfügung. Haben Sie denn einen festen Plan, oder kann ich Ihnen auf andere Weise behilflich sein?“

Der ältere Herr scheint erfreut über das Angebot und entgegnet: Ich bin ein neugieriger Mensch, und nach meiner Pensionierung auf einer Reise nach „Irgendwo“ schon einige Monate unterwegs. In letzter Zeit, habe ich mich in Deutschland umgesehen, nun will ich die Schweiz näher kennen lernen. Ich bin hier ausgestiegen, um einige Tage in dieser Stadt zu verbringen, und bin gespannt, was ich hier sehen und erleben kann. Für heute habe ich übrigens keinen festen Plan und kann frei über meine Zeit verfügen. Der junge Mann hatte aufmerksam zugehört und sich gefragt, wie er dem Herrn bei dessen Erwartung helfen könnte? Es schien ein gebildeter Mann zu sein, der schon bessere Tage gesehen hatte. Er entgegnete: „Ihre Lust  unsere Stadt kennen zu lernen, erlaubt mir, Ihnen einen vielleicht überraschenden Vorschlag zu machen: Ich arbeite in einer großen Schweizer Bank. Heute ist bei uns zufällig ein Tag der offenen Tür. Sie wissen sicher, dass wir derzeit über die Grenzen hinaus ins Gerede gekommen sind. Könnten Sie sich vorstellen, mich zu begleiten, und sich bei uns einige Stunden umzusehen? Vielleicht könnten ich Ihnen überraschend neue Eindrücke über unsere aktuelle Arbeitsweise vermitteln? Er lächelte Augen zwinkernd,  und fügte hinzu: „Sollten Sie ein wenig Reisegeld erübrigen, dann könnte ich Ihnen auch zeigen, wie man bei uns mit kleinen Einsätzen Gewinne erzielen kann.“ Der ältere Herr räusperte sich und sagt: „Ich hab schon einiges  über den Börsenhandel gehört, mich aber des Risikos wegen, bisher selbst nicht beteiligt. Ich könnte mir aber durchaus vorstellen, mich bei Ihnen ein wenig umzusehen. Da ich für heute noch keinen festen Plan habe, nehme ich Ihren Vorschlag gern an, Sie zu begleiten.” Inzwischen war es auch höchste Zeit, denn der Handel eröffnete schon bald.

In der Schalterhalle herrschte heute reger Betrieb: Hinter der Theke saßen einige Händler vor ihren Computern. Davor drängten sich viele Kunden, die auf großen Bildschirmen an der Wand, interessiert die Börsenkurse und die verschiedenen Angebote verfolgten. Der junge Mann bemühte sich einige Zeit, dem älteren Herrn zuvorkommend die wichtigsten Abläufe beim Börsenhandel zu erklären.  Danach forderte er ihn freundlich auf, vor allem die Geschäfte zu verfolgen, die er an seinem Arbeitsplatz mit Kunden abschloss. Der ältere Herr war beeindruckt von dem Geschehen, ließ sich zwischendurch von hübschen Hostessen mit Speise und Getränken verwöhnen und genoss den Tag der offenen Tür. Am Nachmittag nahm sich der junge Mann noch einmal Zeit für ihn und zeigte ihm anhand seines Tagesgeschäftes, welche Aussichten auf Kursgewinne auch bei Kunden mit geringen Einsätzen bestehen. Er fügte hinzu: „Alle Geschäfte müssen aber immer bis zum täglichen Ende des Handels abgeschlossen sein.“ Der ältere Herr bedankte sich für den informativen Tag und sagt: „Meine Neugier ist befriedigt. Ich benötige heute nur noch ein ordentliches Hotel und Bedenkzeit, ob ich eventuell einen Einsatz wage.

Einige Tage danach betritt der ältere Herr nachmittags wieder die Schalterhalle der Bank. Er begrüßt den jungen Mann, und verfolgt mit wachsendem Interesse die Vorgänge. Wie bei einem Spieler steigt seine Erregung und Anspannung so, dass er sich entschließt, unbedingt noch  rasch vor Handelsschluss, ein ihm aussichtsreich erscheinendes Papier zu zeichnen. Aber genau in diesem Augenblicke drängte sich ein Angestellter der Bank so vor ihn, dass er dieses Papier  nicht mehr rechtzeitig erwerben konnte. Die Enttäuschung steht ihm ins Gesicht geschrieben. Als ihm der junge Mann nach Handelsschluss auch noch  erklärt, dass er beim Kauf des gewählten Papiers in absehbarer Zeit einen Gewinn von 2ooo € zu erwarten hatte, stieg ihm die Zornesröte ins Gesicht, und er erzählte dem jungen Mann die Geschichte mit dem Bankangestellten, der ihm zuvor kam. Er erfährt durch ihn, dass ein solches Vorgehen in ihrem Hause streng verboten sei, denn der Chef sei ein sehr korrekter Mann der großen Wert darauf lege, dass die Bank ihr gutes Ansehen bei den Kunden bewahre.

Genau in diesem Moment erkennt der ältere Herr den Angestellten in der Nähe wieder, der ihm soeben zuvor gekommen war, und nun  eilends dem Ausgang zustrebt. Kurz entschlossen, stellt er sich ihm in den Weg und besteht in Gegenwart des jungen Mannes nachdrücklich darauf, die heikle Angelegenheit umgehend mit dem Chef der Bank zu besprechen. Sie werden bei ihm angemeldet.

Schon nach wenigen Minuten betreten sie gemeinsam das modern eingerichtete Büro des Chefs. Der alte Herr ist sehr überrascht, in diesem Raum einem ebenfalls älteren Mann zu begegnen, der überdies auf einen Rollstuhl hinter seinem Schreibtisch sitzt. Als der Chef des Hauses, mit weißen, lockigen Haaren, und einem scharf geschnittenen, trotz vieler Falten, jugendlich wirkenden Gesicht, den Besuchern freundlich entgegen rollte, und einladend auf die Sitzgruppe für Besucher verweist, ist der Bann gebrochen. Mit sonorer Stimme sagt der Chef:  „Ich habe vernommen, dass Sie ein Anliegen haben, bitte sprechen Sie!“ Der alte Herr schildert nun ausführlich sein Erlebnis mit dem Bankangestellten, durch dessen raschen Vordrängens, ihm ein möglicher Gewinn von 2000 € entgangen sei. Er betont, dass es ihm vor allem wichtig sei, die Leitung des Hauses über diesen Vorfall zu informieren.“

Der Chef der Bank lehnte sich überrascht in seinem Rollstuhl zurück, überlegt kurz und sagt: „Es ist nicht üblich, dass unsere Angestellten in unserem Haus im eigenen Interesse Geschäfte tätigen. Wir legen größten Wert darauf, unsere Kunden zufrieden zu stellen. Ich bitte Sie, den Vorfall zu entschuldigen und uns zu gestatten, Sie für den entgangenen Gewinn zu entschädigen. Zum Angestellten gewendet bemerkt er: „Sie erkennen sicher selbst Ihr Fehlverhalten. Es sollte Ihnen zur Warnung dienen, sich künftig streng an die Hausordnung zu halten und derartige Handlungen zu unterlassen.

Der alte Herr atmete erleichtert auf und sagt: „Ich konnte keineswegs damit rechnen, dass die Angelegenheit einen so erfreulichen Ausgang nimmt. Es ist kaum fassen, dass Ihr Haus für diesen möglichen Schaden aufkommt. Ich kann nur sagen Gott sei Dank – und betrachte das als einen erneuten Beweis dafür, dass ich in allen Lebenslagen mit Schutz und Beistand rechnen darf. Der Chef der Bank sah ihn verständnisvoll an und entgegnet: „Mir scheint, wir sind beide auf der gleichen Zielgeraden unseres Lebensweges angelangt; da lebt es sich leichter, wenn man das eigene Gewissen nicht mehr zu sehr belastet. Ich sage Ihnen als Chef dieses Hauses: Geld ist auch für mich nicht das letzte Wort! Sie verabschieden sich herzlich. Der junge Mann fügt hinzu: Viel Vergnügen bei der weiteren Reise durch die Schweiz!

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