Wir sind unterwegs: Die Luft ist diesig und steht an diesem heißen Sommertag flimmernd über dem steinigen Weg, der zu einem kleinen Waldstück in der Nähe führt. Meine Frau und deren Schwester gehen in angeregtem Gespräch voraus. Ich bleibe mit beiden Kindern immer mehr zurück. Wir können das Tempo der Frauen nicht halten. Die Trippelschritte der Kleinen geben nicht mehr her. Auch mir ist nach einer bedächtigeren Gangart. Die Kinder stimmen bereitwillig zu, als ich ihnen, der brütenden Hitze wegen, eine Ruhepause vorschlage. Wir setzen uns an den Wegrand, lassen die „Großen“ ziehen. Bunte Steine unterschiedlicher Größen, körniger, durch die Einflüsse der Witterung aus dem Felsen gebröselter Sand, da und dort ein trockenes Holzstück, möchten mit uns spielen. Im Handumdrehen verzaubern die Kinder den gewöhnlichen Fahrweg in eine Spielwiese. Ihr emsiges Treiben, das ich anerkennend beobachte, drängt mich, mit zu werkeln. Wie absichtslos beginnen meine Finger Figuren in den lockeren Sand zu malen.
Doch plötzlich verändert sich überraschend die sorglose Heiterkeit des Sommertages. Als ob ich blind und schwerhörig geworden wäre, erscheint das Spiel der Kinder und die Natur wie hinter einem Vorhang zunehmend unerklärlich fremd und unnahbar. Eine unerwartet ängstliche Stimmung, kündigt sich in einer Spannung im ganzen Körper an. Das Herz pocht bis zum Halse. Ähnliches hatte ich bisher nur einmal mit 40 Jahren auf einem Spaziergang um den Schluchsee im Schwarzwald erlebt. Dabei wurde mir unabweisbar klar, dass aller Menschen Leben und auch meines endlich sei. Einer Eingebung folgend, stellte ich mich damals in die lange Reihe meiner Vorfahren. Bauern, die ihre Felder bestellten, die Ernte einfuhren, Familien gründeten und sich nach einem arbeitsamen Leben ins Unausweichliche schickten. Die Vorstellung, mit ihnen im gleichen Boot bleiben zu wollen, war tröstlich, wie ein Händedruck unter Freunden.
Meine Kinder indes, vergnügen sich derweil unbekümmert und arglos neben mir im Sand. Ihr emsiges Spiel, scheint sie abzuschirmen. Es ist nicht zu erkennen, dass sie meine momentane Unsicherheit, Angst und Trauer bemerken. Die Stimmen der Frauen verlieren sich in der Ferne, und dringen nur noch als unverständliche Wortfetzen an mein Ohr. Auch die Vögel haben sich in den schattigen Wald verkrochen. Ihre matten Stimmen sind fast nicht mehr zu hören. Nur einige Schmetterlinge strahlen den Kindern gleich, Lebensfreude aus. Unermüdlich tanzen sie in der leichten Brise auf und ab und flattern um uns herum. Doch, was ist denn das? Plötzlich höre ich mitten in meiner unerklärlichen Notlage, von weit her Gesang. Es sind Melodien, wie aus einer anderen Welt, die ich schon lange nicht mehr hörte. Alte, vertraute „Marienlieder“. Sie dringen aber jetzt nicht nur an mein äußeres Ohr. In der momentanen Verstimmung öffnen sie eine innere Tür, die mir ein tröstendes Hören ermöglicht. Ich unterbreche spontan mein Spiel im Sand, richte mich auf und wittere, wie ein waches Wild, in Richtung des Gesanges. Woher konnten in dieser einsamen Gegend Melodien kommen? Unter einem unwiderstehlichen Drang, nehme ich meine beiden Kinder an der Hand und folge dem Klang der Lieder. Sie führen uns den Weg zurück, bis wir am Horizont die Umrisse einer kleinen Kapelle entdecken, an der wir zuvor achtlos vorbei gegangen waren.
Eine der kleinen Wegkapellen, die im Schwarzwald öfters anzutreffen sind. Steine und Holz aus der Umgebung bilden das Baumaterial. Außen mit grobem Putz, der Innenraum meist schlicht gestaltet. Einfache, zur Andacht ladende Bänke, ein Kreuz mit Marienbild und ein Strauß frischer Feldblumen auf dem kleinen Altar, bilden die Ausstattung. Schwarzwälder Bauern haben hier Hand angelegt, das ist aus allen Details zu spüren. In immer schnelleren Schritten kommen wir der Kapelle endlich nahe. Es besteht kein Zweifel. Aus diesem schlichten Andachtsraum erklingen die frommen Lieder. Unsichtbare Fäden ziehen mich mit den Kindern in die Kapelle hinein. Leise, um die Sänger nicht zu stören, öffnen wir die Türe und nehmen auf den rohen Bänken Platz. Vater, Mutter und Kinder, „Wanderer wie wir“, sitzen dort und singen aus vollem Herzen: „Maria breit den Mantel aus…, Segne mich Maria…“ und andere Lieder, die mir seit Kindertagen im Ohr liegen. Ich sitze mit meinen Kindern da und lausche ergriffen. Es verschlägt mir die Stimme. Ich kann nicht mitsingen, bin einfach nur da, betroffen und getroffen. Die Nähe zur Gottesmutter, vielleicht zu allem Mütterlichen, wird in diesem Raum spürbar. Die Lieder von Sehnsucht, Wehmut und Geborgenheit, wirken wie eine Antwort auf meine augenblickliche Sprachlosigkeit. Seit Jahren hatte ich nicht mehr geweint. Nun flossen die Tränen. Wie aus einer reinen Quelle perlten sie die Wangen hinab. Schweigend, ohne die geringste Scham, ließ ich es geschehen. Die Tränen drückten ja weniger Schmerz, eher Freude und Glück aus. Ein in den Wirren des Lebens geschüttelter, verhärteter Mann, hatte in einer schlichten Kapelle, in frommen Liedern einer „Wanderfamilie“ geborgen, Trost erfahren und zu lassen können. Bis auf den heutigen Tag fühle ich mich bestärkt und getröstet, wenn ich mich an diese Kapelle im Schwarzwald erinnere. Es scheint zu stimmen: „Marienkinder gehen nicht verloren!“ Die kleine Kapelle im Schwarzwald möge mir verzeihen, dass ich sie einmal übersehen habe.