Die kleine Orchidee

Hastig verlässt Iris heute Morgen das Haus, nimmt sie doch begeistert an Vorlesungen der Uni Stuttgart teil. Ich denke und fühle ihr nach. Offensichtlich hat sie den Zug noch erreicht. In aller Ruhe genieße ich das Frühstück und räkle mich behaglich in der momentanen Stille. Absichtslos wandert der Blick über die kahlen Bäume vor dem Fenster, an deren Äste Regentropfen im Licht glitzern, und zurück zu den Bildern und Möbeln unseres gemütlichen Esszimmers. Einige Herzschläge lang schließe und öffne ich die Augen, bin einfach nur da. Wie durch ein Wunder bekommt alles um mich Leben und Farbe. Bis in die Fingerspitzen pulsiert diese Erfahrung. Kann ich den Sinnen trauen, in Worte fassen, was sich mir zuträgt?

Ich sitze am ausladenden, ovalen Tisch im lichten Esszimmer; allein, aber keineswegs einsam. Oft saßen wir hier vergnügt bei Mahlzeiten und Gesprächen mit unseren Kindern, Verwandten, Freunden und Gästen. In der anhaltenden Stille drängt es mich, Gedanken und Wünsche fliegen zu lassen. Ich stelle mir vor, der Tisch würde größer und größer und alle Menschen, die uns lieb und teuer sind, fänden hier Platz, obwohl in Wirklichkeit nur wenige Stühle frei sind. Wohin würde mich die heitere Stimmung führen, wenn ich verzichtete, der Fantasie Fesseln anzulegen? Einer hübschen Orchidee, die uns Freunde zu Weihnachten
schenkten, gelingt es unvermutet, mein Interesse zu wecken. In deutlichem Kontrast zu der mit spärlichen Schneeresten behafteten, frostigen Umgebung, dem grau in grau, Wolken verhangenen Himmel, und den regungslos schweigenden Bäumen, zeigt sie am Ende des Tisches ihre ganze Pracht: Ein kräftiger, nur wenige Hände hoher Stil, verleiht ihr Halt. Formenreich dehnen sich die Triebe nach allen Seiten aus und präsentieren in einladendem Gelb, das in Goldtöne hineinspielt, schmucke, sternförmige Blütenstände. Der glänzende, grüne Übertopf, in dem sich schattenhaft die Umrisse des Esszimmers spiegeln, hebt kontrastreich, die Farben der Orchidee hervor. Einige dunkelgrüne, fettglänzende Blätter, die das schwache Licht der trüben Sonne reflektieren, verteilen sich seitwärts. Staunend begegnen wir einander für eine Weile, als könnten wir uns, wie zeitlos Liebende, in die Seele schauen.

Mein Vater kommt in den Blick: Ein Gemälde von seiner Hand, zwei Jahre nach meiner Geburt, im Stile Feiningers gestaltet, in hellgrauen, blau- und roséfarbenen Tönen, mit einem strahlenden Lichteinfall vom rechten oberen Bildrand, zeigt eine nordafrikanische alte Stadt, die sich um ein turmartiges, hohes Gebäude schart und dem abstrakten Gebilde einen festen Mittelpunkt verleiht. Schön, dass mir mein Vater im Bild gegenüber Gesellschaft leistet. Nachdenklich überlasse ich mich einem plötzlichen Einfall: Vorgestern waren es einundfünfzig Jahre, seitdem wir uns in der kleinen Apostelkirche am Friesenring in Münster das Eheversprechen gaben. Von da an begannen wir, begeistert, Biedermeier-Möbel zu sammeln. Jedes neue Stück musste zu unserer Einrichtung passen und bezeugt eine je eigene Erwerbsgeschichte. Die Möbel selbst verraten diese Geheimnisse nicht. Sie erfreuen aber jedes Auge mit ihren hell-braunen, leuchtenden Farben und der natürlichen Maserung ihrer Oberfläche. Ich sitze auf einem, der uns geschenkten Stühle, die mit
schwarzem Rosshaarbezug und kunstvollen, schwarz-gold-messing- dekorierten Rückenlehnen versehen sind. Mehrere, der zusätzlich im Raum verteilten Stühle dieser Art, warten geduldig auf Gäste. Zu Rechten, an der Wand, behauptet sich unsere Kommode. Auf ihr sind seit Weihnachten zwei Laternen zu sehen, die uns als Geschenke der Töchter, ins neue Jahr leuchten sollen. Daneben und auf dem Fensterbrett zur Linken, stehen weitere Orchideen in voller Blüte, Geschenke eines Freundes aus der Schweiz.

Über der Kommode hängt ein von meinen Schwiegereltern sehr geschätztes Ölbild, das sie lange Zeit begleitete und uns anvertrauten. Es stellt in grün-grau-bräunlichen Farbtönen, eine sich weit in den Horizont erstreckende, niederländische Landschaft dar. Der erdige Geruch des endenden Winters und die Kraft des Vorfrühlings sind zu spüren: Im Vordergrund wartet ein eiserner Pflug darauf, die Erd umbrechen zu dürfen. Einige wenige Schneeflecken, wetteifern in Weiß mit den ansonsten eher dunklen Tönen des Bildes. Links im Hintergrund versteckt sich ein Dorf. Der Kirchturm lässt dessen geistlichen Mittelpunkt erahnen. Das Bild erinnert mich an beglückende Stunden mit »Vati und Mutti«. Hinter mir steht die vertraute Vitrine, deren Scheiben den Blick auf das kostbare, weiß lasierte Service für die Festtage frei geben. Ich kann, ohne mich umblicken zu müssen, den neben der Türe zur Küche stehenden Biedermeier-Eckschrank und das ihn ergänzende, edle kleinere Schränkchen darüber, vollgefüllt mit Tellern und Tassen, erkennen. In Abwesenheit meiner Frau, stört es keineswegs, dass unser Frühstückstisch noch nicht aufgeräumt ist. Das momentane Durcheinander harmoniert nämlich sehr gut mit der, eine natürliche Ordnung ausstrahlenden, kleinen Orchidee. Alle Möbel im Esszimmer gewinnen zunehmend ein Eigenleben, werden zu Symbolen, die über sich hinausweisen: Obwohl der Orient-Teppich zu meinen Füßen, der Tisch und Stühle trägt, nicht nach Osten ausgerichtet ist, lädt er zur Besinnung ein. Einige Atemzüge lang, spüre ich den beruhigenden Rhythmus des Lebens, der, wie die am Ufer des Meeres versandenden Wellen, ewigen Gesetzen folgt. Die Hände falten sich unwillkürlich. Ich erahne den Segen des Augenblicks. Das Stundenbuch neben mir auf dem Tisch, das eben noch als Gebetshilfe diente, benötige ich nicht mehr. Es betet in mir. Tief bewegend, bahnt sich die Freude ihren Weg.

Ohne zu zögern, folge ich einer Eingebung und biete Gott-Vater, Sohn und dem heiligen Geist spontan die drei freien Stühle an. Gleichzeitig wundere ich mich über diese kühne Fantasie. Und gedrängt, von einer mich momentan leitenden Großzügigkeit, bitte ich auch die Gottesmutter, Petrus und Paulus, stellvertretend für alle, die mir im Glauben nahe sind, sich in unserem Frühstücks-Paradies zu mir an den Tisch zu setzen. Sie finden alle Platz. Engel jubeln bei diesem stillen Geschehen indes nicht laut, wie an Weihnachten, sondern wedeln nur leise und sacht mit ihren Flügeln. Einige Tränen besiegeln die Wahrheit dieser lichtvollen Erfahrung. Eine mir sehr vertraute Szene der Heiligen Schrift, gewinnt in dieser Situation tiefere Bedeutung: Als nicht die Jünger von Emmaus, sondern der Herr selbst, ihnen die Schrift erschloss, entbrannte deren Herz. Welch ein Trost!

Franz Schwald
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