Flippsi und Flappsi

Es war einmal ein Mäusemädchen, eigentlich eine süße kleine Mäusedame, niedlich, lebendig und sehr schön. Sie saß eines Tages auf einem Stein und betrachtete ihre Welt. Viel gab es da zu bewundern: Gräser, bunte Blumen, einen kleinen Bach, einen Hügel mit Büschen und Bäumen. Sie hörte die Vögel zwitschern und freute sich an dem Spiel der Wolken, die am Himmel ihre Bahn zogen. Ihre Freundin, die liebe Sonne, machte die ganze Welt heiter und wärmte Flippsi auf ihrem Stein.

Da schob sich plötzlich eine dicke, dunkle Wolke vor die Sonne. Schatten legten sich über alles und Flippsi wurde es trotz des dichten Mäusefells kühl. Sie konnte sich auf einmal gar nicht mehr so richtig freuen. Als hätte sich Dunkelheit auch über ihre zarte Seele gelegt, begann sie über ihr bisheriges Leben und all die Wünsche nachzudenken, die sich noch nicht erfüllten. Eigentlich, dachte sie, führe ich gar kein schönes Mäuseleben, denn ich bin allein. Andere Mäuse sind verheiratet, haben eine Wohnung und Kinder. Sie spürte deutlich, wie sehr sie sich nach einem hübschen, starken Mann und lieben Kindern sehnte. Da wurde Flippsi sehr traurig: Die Blumen waren nun nicht mehr so schön, der kleine Bach plätscherte weniger lieblich. Sogar die Bäume und Büsche schienen sich im Schatten ein wenig zu ducken und die Sonne hinter den Wolken hielt ihre wärmende Kraft zurück. Flippsi ging alles so sehr zu Herzen, dass sie schrecklich weinen musste. Tränen tropften ihr ins Mäusefell, als sie bemerkte, von niemand geliebt zu sein. Lange saß sie, ganz in sich zusammen gekauert, auf ihrem Stein und verbarg ihr Gesicht in den Pfoten. Schließlich wurde Flippsi aber sehr ärgerlich, denn sie bemerkte plötzlich: »das Weinen hilft ja gar nicht!« Und als eine Schwalbe herbeiflog und sie voll Mitleid am Schwanz zupfte, kam ihr die Idee: Wenn sie sogar eine kleine Schwalbe ein wenig lieb habe, dann finde sie sicher auch noch einen lieben Mäusemann. Auf einmal wich die ganze Trauer von ihr. Und ganz aufgeregt, überlegte sie weiter. Einen lieben Mann bekomme sie doch wohl eher dann, wenn ich nicht mehr traurig wäre und mich recht hübsch machte:

So schnell ihre kleinen Mäusebeine sie trugen, lief sie hinunter zum Bach. Ihr Spiegelbild im Wasser wollte ihr aber gar nicht gefallen.»Du siehst ja wirklich zum Heulen aus, Flippsi«, sagte sie zu sich selbst und »Das soll aber nun anders werden! « Und sie machte etwas, was Menschenkinder manchmal gar nicht so sehr mögen. Sie wusch sich so gründlich, dass es eine Freude war, ihr zu zuschauen: Sie wusch sich das Gesicht, die Beine, den Bauch und den Rücken, sogar den lieblichen Mäuseschwanz und den Mäusepopo. Dann eilte sie wieder schnurstracks zu ihrem Stein und ließ sich vom Wind und der Sonne, die wieder hinter den Wolken hervortrat, behaglich das Fell trocknen. Ei, war da Flippsi schön an zusehen: Ihr Fell glänzte in der Sonne. Sie konnte sich wieder an dem schönen Tag freuen und saß recht vergnügt und zufrieden auf ihrem Stein. Gedanken verloren wanderte ihr Blick den kleinen Weg am Bächlein entlang. Es schien in der Ferne nur noch ein kleiner Sprung zu sein, bis zur wärmenden Sonne. Sie überlegte ernstlich, die liebe Sonne zu bitten, dass sie Flippsi einmal Huckepack nehmen sollte. Dann nahm sie aber wieder Abschied von dieser Idee, denn jetzt, da es ihr wieder gut ging, wollte sie es nicht riskieren, sich das schöne Fell zu verbrennen.

Aber was war denn das? Da kam doch -wie ein Bote der lieben Sonne- ein Mäusemann des Weges. Es war Flappsi, der da entlang des Baches einen Trainingslauf machte. Er war stark und schön anzusehen, und konnte so gut rennen, dass der Staub wie eine kleine Wolke hinter ihm aufwirbelte. Ihr sollt wissen: Die Mäuse haben von Kindheit an großen Spaß sich zu bewegen, zu rennen und sich zu verstecken. Das ist wichtig für sie, um sich vor den Katzen zu schützen. Und Flappsi war ein besonderer Mäusemann, der gern seine Muskeln spielen ließ, ja manchmal sogar dazu neigte, vor anderen Mäusen mit seiner Kraft zu protzen. Wenn er aber nicht gerade, wie jetzt, hart trainierte, konnte er auch ganz gemütlich und faul herumliegen. Jetzt aber war ihm offensichtlich nach Rennen zumute. Er keuchte und schwitzte dabei und bekam vor Anstrengung eine ganz rote Nase. Er schien für nichts anderes Interesse zu haben.

Da sah er, wie ein Geschenk des Himmels, plötzlich Flippsi in der Sonne auf ihrem Stein sitzen. Aus vollem Lauf blieb er wie angewurzelt stehen, und konnte sich nicht genug satt sehen an dieser hübschen Mäusedame. Wahrlich, Flappsi hatte schon manchem Mäusemädchen den Hof gemacht. Flippsi strahlte ihn aber so betörend an, dass Flappsi alle Bedenken beiseite schob und es wagte, die Mäusedame mit einer leichten Verbeugung artig zu begrüßen. Er hatte auf einmal gar keine Lust mehr, alleine am Bach entlang zu laufen. »Hallo! «, sagte er: » Ich bin Flappsi und finde, Du siehst gut aus! « »Hallo! «, sagte Flippsi, ohne sich allzu sehr zu zieren: »Ich heiße Flippsi, »Du siehst auch ganz gut aus! Willst Du Dich nicht ein wenig zu mir setzen? Wir könnten zusammen plaudern«. Sie dachte: Einen so tollen, starken Mäusemann habe ich selten gesehen.

Flappsi nahm das Angebot an und setzte sich neben der Mäusedame auf den Stein. Sie erzählten sich so dies und das, was einen Mäusemann und eine Mäusedame das Jahr über beschäftigt. Die Sonne schien plötzlich wieder wärmer zu strahlen, die Vögelein lieblicher zu zwitschern, der Hügel und die Büsche standen wieder in saftigem Grün und sogar das Bächlein schien in Freude lauter als zuvor zu plätschern. Flippsi und Flappsi waren auf einmal sehr verliebt. Sie streichelten sich und gaben sich sogar ein Küsschen. Wenn ich einmal heiraten sollte, dachte Flappsi, dann müsste meine Mäusefrau so aussehen, wie Flippsi. Und Flippsi dachte: Einen so schönen, starken Mann wie Flappsi, würde ich auf der Stelle heiraten. Nun nahm Flappsi seinen ganzen Mut zusammen und sah Flippsi so liebevoll an, dass diese ihr Mäusegesicht ein wenig zur Seite bog und gestand ihr: »ich finde Dich, Flippsi, wunderschön. Willst Du meine Frau werden und mich heiraten? « Flippsi fühlte ihr Herz bis ins Mäuseschwänzchen pochen und sagte ganz glücklich: »Auch Du gefällst mir. Einen Mann wie Dich, habe ich mir immer gewünscht«. Sie nahmen sich in die Arme und keine der Wolken am Himmel traute sich in diesem Augenblick, die Sonne zu verdecken, um dem Glück der beiden Mäuschen nicht im Wege zu stehen. Der Abschied tat nicht weh, denn sie würden sich ja wieder sehen.Froh eilten die beiden nach Hause zu ihren Eltern und verkündeten ihnen die große Neuigkeit. Und wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Kunde, dass bald eine große Mäusehochzeit gefeiert werde. Viel gab es nun zu tun, bis alles vorbereitet war. Denn auch Mäuse verstehen sich darauf, Feste zu feiern. Nachdem alles vorbereitet war, wurden Einladungskarten mit der Mäusepost versandt. Darauf stand geschrieben: »Wir laden Euch herzlich zu unserer Mäusehochzeit am nächsten Sonntag ein! Eure Flippsi und Flappsi«.

Und dann kam der große Tag: In einer kleinen weißen Mäusekutsche fuhren die Brautleute und deren Eltern zur Kirche. Flippsi trug ein wunderschönes, weißes Brautkleid mit einer großen Schleppe. Flappsi hatte sich als Bräutigam besonders chic gekleidet. Alle eingeladenen Mäuse und die vielen Tiere, die als Zaungäste neugierig herbei gekommen waren, klatschten Beifall. In der Mäusekirche hatte sich der Pastor auf eine feierliche Trauung eingestellt und einige Musiker eingeladen. Die Mäuseeltern und Verwandten nahmen in den ersten Reihen Platz, rückten ihre Festtagskleider zurecht und lauschten ergriffen der schönen Musik. Der Pastor hielt eine tiefsinnige Predigt über Liebe und Treue. Heimlich wischten sich die Mäusemütter Tränen der Rührung ab. Selbst die Mäuseväter hätten fast geweint, wenn ihnen nicht gerade noch eingefallen wäre, dass sie das ja nur sehr selten tun. So schauten sie in ihrer stillen Würde der Trauung nur ein wenig hilflos und verknittert zu. Der Pastor steckte dem Brautpaar die Ringe an und segnete das Paar und alle Anwesenden. Die Orgel spielte noch einmal recht feierlich zum Auszug. Alle Verwandten, Freunde und deren Kinder, die sich am Portal aufgestellt hatten, spendeten Beifall. Die Vögel setzten sich auf das Gebälk unter dem Vordach der Kirche und zwitscherten im Chor ein wunderschönes Lied. Hinter der Brautkutsche fuhren alle geladenen Gäste in Blumen bekränzten Gespannen zum großen Festschmaus in´s Mäusegasthaus.Es gab ein leckeres Hochzeitsessen: Saft für die Kinder, und Wein für die Großen. Danach wurden Eis und Kuchen serviert und die Musik spielte zum Tanz auf. Flippsi und Flappsi eröffneten den Hochzeitstanz und gaben sich vor allen Gästen einen Kuss. War das ein Singen, Tanzen und Scherzen. Man sagt heute noch, dies sei eine der schönsten Mäusehochzeiten gewesen, die es je gegeben hat.

Flappsi nahm anschließend seine junge Frau bei der Hand und ging mit ihr zur neuen Wohnung. Er hatte ja zur Überraschung seiner Frau, das Mäuseloch ganz besonders fein einrichten lassen. Bei der Wohnung angekommen, nahm er sie auf die Arme und trug sie -wie sich das auch bei Mäusen gehört- über die Schwelle in´s Mäuseloch. Flippsi konnte sich nicht satt sehen an all den schönen Sachen: Im Flur gab es eine hübsche Garderobe mit einem großen Spiegel. In der Küche befanden sich in weißen Schränken klitzekleine Tellerchen, Tassen, Töpfe und Pfannen. Es gab auch einen Kasten mit Gabeln und Messern. Sogar – Ihr werdet es kaum glauben- eine Spülmaschine stand da, damit Flappsi nicht selbst Geschirr spülen musste. Im Esszimmer gab es ein kleines Sofa, Schränke für das Geschirr und ein Tisch mit Stühlen. Zur Feier des Tages hatte Flappsi auch rote Rosen nicht vergessen, und sie in einer schönen Vase auf dem Tisch gestellt. Das Wohnzimmer war mit Bücherschränken, Tisch, Sesseln und einem großen Sofa ausgestattet. Sogar einen Fernseher hatte Flappsi besorgt, obwohl Mäuse eigentlich wenig Zeit zum Fernsehen haben. Im Schlafzimmer standen Betten und ein Schrank mit Wäsche. Sogar ein Mäusebad und eine Mäusetoilette gab es.

Glücklich und zufrieden lebte das Paar hier lange Zeit. Flappsi sorgte dafür, dass genügend Nahrung ins Haus kam. Flippsi verwöhnte ihren Mann mit gutem Essen und hielt das Mäuseloch in Ordnung. Denn auch Mäuseltern haben es gern, wenn die Wohnung ab und zu wieder einmal aufgeräumt ist. Als einige Monde ins Land gegangen waren, stellte sich bei Flippsi und Flappsi Nachwuchs ein. Drei Mäusekinder wurden geboren. Das war ein Leben in der Mäusewohnung. Flippsi klagte nun öfters, dass es hier nun wirklich zu eng würde und dass man mit drei Kindern ein größeres Mauseloch benötige. Flappsi hatte sich aber so an die alte Wohnung gewöhnt, dass er sie gar nicht mehr aufgeben wollte. Er half nun auch im Haushalt mit, fütterte die Mäusekinder, wusch sie und brachte sie zu Bett.

Die drei Mäusekinder wuchsen heran und wurden immer frecher. Bald hielt es sie nicht mehr im Mäuseloch und Flippsi mußte ihnen erklären, wie es draußen in der Welt zugehe. Sie ermahnte immer häufiger ihre Kinder und sprach: »Passt gut auf, passt gut auf, wenn ihr draußen vor dem Mäuseloch spielt, denn da schleichen auf samtenen Pfoten der Kater Mautze und die Katze Mietze herum und die fressen mit Vorliebe kleine Mäusekinder!« Wenn ich die Katzen sehe, dann rufe ich: » piep, piep, piep! Kommt dann schnell, kribbele, krabbele in´s Mauseloch hinein, damit Euch kein Leid geschieht«! Und eines schönen Tages, als die Mäuslein wieder einmal sorglos vor dem Mauseloch in der Sonne spielten, schlich tatsächlich der Kater Mautze auf leisen Sohlen heran. Er leckte sich in Erwartung der feinen Speise den Mund und duckte sich zum Sprung, um die Mäusekinder zu fangen und zu fressen. Aber Flippsi hatte wie ein Schießhund aufgepasst: »Piep, piep, piep! « warnte sie ihre Kinder. Und wie der Blitz flüchteten sie, kribbele, krabbele ins sichere Mauseloch. Der Kater Mautze aber schlich enttäuscht von dannen, denn er konnte keines von ihnen fangen und fressen. Und wenn die Mäuslein nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.

CARPE DIEM

Das zunehmende Lebensalter lädt uns Menschen ein, über das Phänomen der Zeit nachzudenken. Dies scheint berechtigt, wenn wir erwägen, dass unsere verfügbare Zeit stetig schwindet und, wie bei allen Lebewesen, begrenzt ist. Den römischen Dichter Horaz könnte dieses Erleben der Endlichkeit zu seiner Aussage “carpe diem” -nutze die Zeit- geführt haben, die ich als Titel zu einer Betrachtung über die Zeit wähle. Das Ende unseres Daseins naht wirklich todsicher. Es scheint so betrachtet, als stünde unser ganzes Leben nur unter einem schlechten Stern. Horaz richtet seinen Blick jedoch auf die in unserem Dasein stets vorhandenen Gestaltungsräume. Auch wir heute Lebenden versuchen die vorhandene Zeit zu nutzen, wehren uns gegen die Vorstellung einer reinen Vergänglichkeit und hoffen mit vielen Gläubigen auf ein Leben nach dem Tod. Greifen wir daher die Anregung des römischen Dichters, als Impuls zu einer Betrachtung über die Zeit auf:

Unter den Philosophen hat sich vornehmlich Martin Heidegger in seinem Hauptwerk “Sein und Zeit” ausführlich mit Aspekten des Phänomens der Zeit im menschlichen Dasein befasst. Ärzten, wie S. Freud und C.G. Jung, verdanken wir Erkenntnisse über das Zeiterleben in Gestalt von bewussten und unbewussten Vorgängen in unserer Seele. Auch die Psychologie untersucht Aspekte der Zeit, nimmt die existenziellen Bedingungen des menschlichen Lebens in den Blick, und erforscht das Verhalten und dessen gezielte Veränderung. Christliche und andere Religionen betrachten das menschliche Leben im Ganzen der Schöpfung, und geben Antwort auf die Sinnfrage und Sehnsucht nach einem Leben über den Tod hinaus. All dies sind bedeutende und nützliche Hilfen, um unser Dasein unter den jeweils gegebenen existenziellen Bedingungen unserer Umwelt zu verstehen und zu gestalten. Das Bewusstsein aber, dass unsere Leben einem steten Wandel ausgesetzt ist, umfasst die ganze Geschichte der Menschheit. Selbst die Natur, in der wir uns vorfinden, ist diesem unaufhaltsamen Werden und Sterben ausgesetzt. Wir könnten zwar versuchen, vor diesen Tatsachen die Augen zu verschließen und uns der Anerkennung unserer Lebensbedingungen und den uns gestellten Aufgaben zu verweigern, aber es nützte nichts, denn mit der Geburt in diese Welt blieben wir dennoch unauslöschlich im Buch des Lebens als einmal “Gewesene” aufgezeichnet. Nehmen wir daher unser persönliches Leben in der Zeit, als einen Prozess stetigen Wandels näher in den Blick.

Es mag in unserer Vergangenheit durchaus schmerzliche oder schöne Erfahrungen gegeben haben, sie gehören aber als solche nicht mehr zu unserer realen Gegenwart. Die Mutter Zeit hat sie längst in den Schoß des Vergangenen aufgenommen. Auch wenn vergangene Ereignisse von Gefühlen begleitet sind, besitzen sie nicht mehr die gleiche Aktualität wie früher. Sie können als vergangene und damit in ihrer Bedeutung als “gewesene” Ereignisse erkannt, und einer bewussten Prüfung zugängig gemacht werden. Dadurch könnten sie ihren eventuell bedrohlichen Charakter verlieren, und ihr kreatives Potential wieder entfalten, um in verschiedener Weise das gegenwärtige oder künftige Leben zu bereichern.

Von den in unserer Vergangenheit wurzelnden Erlebnissen können wir uns aber nicht vollkommen lösen, denn sie wirken bewusst oder unbewusst in unsere Gegenwart und Zukunft hinein. Es gilt aber, darüber zu wachen, dass wir unsere Freude am Dasein bewahren, um die stets neuen Lebensaufgaben zu lösen. Horaz erinnert uns mit seiner Aufforderung, jeden Tag zu nutzen, nachdrücklich an diesen zu unserem Wohl täglich eröffneten Gestaltungsspielraum. Wir sollten uns daher bewusst sein, dass all unser gegenwärtiges Werken und Gestalten in der Zeit, dem Gesetz des Sterbens und Werdens in der Natur nicht ganz entgehen kann. Übergeben wir doch täglich unser Werk als einen “gewesenen Tag” dem uns geschenkten Schlaf und damit auch der Vergangenheit. Es scheint daher vernünftig, unser Wirken in der Gegenwart so zu betrachten, als hätten wir alles nicht vollkommen in Händen, um uns dadurch in das stetige Loslassen im Leben nach dem Gesetz von Zeit und Ewigkeit einzuüben.

Im Verlauf des Lebens wird aber zunehmend die Begrenzung aller verfügbaren Zeit deutlich bewusster. Unsere Handlungsspielräume können durch unerwartete Ereignisse wie Krankheit, körperliche oder seelische Beeinträchtigungen gemindert werden. Es verlangt deshalb Mut, trotz der Beobachtung von Todesfällen und Schicksalsschlägen, in unserer Umwelt, sich immer wieder aufzuraffen, um das eigene Leben dennoch in Grenzen zu genießen und den uns verbleibenden Lebensraum tagtäglich zu gestalten. Redlicherweise lässt es sich aber nicht aus unserem Bewusstsein verdrängen, dass auch unser künftig zur Verfügung stehender Gestaltungsraum, der zunächst, wie ein unbeschriebenes Blatt viele Möglichkeiten offen lässt, einmal ein “gewesener” sein wird. Es scheint daher, als ob die Mutter Zeit dem Gesetz des Sterbens und Werdens folgend, sowohl unser vergangenes, als auch unser gegenwärtiges und zukünftiges Leben umfinge.

So kommen wir nun bei unserer Zeitanalyse zu einem letzten Gedanken. Es scheint bei unserer Betrachtung des Lebens in der Zeit etwas zu geben, das sich trotz aller denkbaren Vergänglichkeit des Daseins behauptet. Denn unsere Vergangenheit, wie die Gegenwart und Zukunft, werden einmal mit Sicherheit ein persönliches Leben “gewesen” sein. Wir haben es zwar nur in sehr begrenzten Möglichkeiten in Händen. Dennoch wird es aber einmal sicher ein ganzes, nicht mehr auszulöschendes, wertvolles Leben “gewesen” sein, auch wenn wir dann dieser Welt nicht mehr angehören.

Hier taucht noch einmal der Begriff des “carpe diem” in anderer Bedeutung auf. Wir können und sollten, soviel uns möglich ist, dazu beitragen, unser Leben so zu gestalten, dass wir es dereinst mit allen Höhen und Tiefen, als ein menschenwürdiges und verantwortungsvoll erfülltes Leben am Ende unserer Tage, unserem Schöpfer und Erhalter anvertrauen können. Er unser Gott, zu dem wir als Christen aufschauen, möge uns in allem Werden und Vergehen bis dahin segnen und vor allem Bösen bewahren. Ihm unserem Schöpfer und Erhalter dürfen wir aber getrost alles vergangene, gegenwärtige und zukünftig “Gewesene” unseres irdischen Weges, und dereinst all unser “Gewesensein” im Ganzen anvertrauen.

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