Später Brief

Wir hatten zusammen Holz gesägt, da griffst Du Dich an die Brust. Ich fragte: „ Geht es Dir nicht gut?“ Dann geleitete ich Dich bis zur ersten Wende im Treppenhaus. Langsam brachst Du in die Knie. Ich barg Dich sorgsam in meinen Armen, damit Du nicht zu Boden fielst und rief besorgt unsere Mutter. Sie kam sofort, stand vor Dir, sah Deine brechenden Augen, zitterte und bebte am ganzen Leib. An ihrer Reaktion erkannte ich, dass etwas Schreckliches geschehen sein musste. Sie bat mich, den damals Zwölfjährigen, in ihrer Not, rasch einen Doktor herbei zu rufen. Wie von Furien gehetzt, rannte ich von Praxis zu Praxis, bis ich einen Arzt fand, der sein Kommen zusagte. Als er bei uns eintraf, lagst Du, Großmutter, fremd und leblos ausgestreckt, auf dem Bett. Der Doktor konnte nur noch den Tod feststellen.

Bis zu diesem Augenblick hatte ich noch nie eine so schmerzliche Trennung erlebt. Bei Deinem Tod, Großmutter, packte mich das reine Entsetzen. Du warst unerwartet, und wie endgültig verstummt. Eine Erfahrung von bisher unbekannter Tragweite. Das Unfassbare legte sich wie eine Nacht auf meine Seele. Ich erstarrte vor Angst und Schrecken, wie zu einer Salzsäule, und konnte weder sprechen, fühlen noch weinen. Was damals geschah, ging über meine Kräfte: Männer in dunkler Kleidung brachten meine Großmutter zum Friedhof ins Leichenhaus. Von da an mied ich diesen Ort, und konnte die Thuja Hecken nicht mehr riechen. Die Beerdigung lief wie mechanisch vor mir ab. Ich stand versteinert am Grab, hörte den leichten Aufprall des Sarges, und das Geräusch, als die Totengräber die Seile wieder hoch zogen.

Heute bin ich, selbst alt geworden, der Sprache längst wieder mächtig, und versuche, das in Worte zu fassen, was damals nicht möglich war: Du, Großmutter, warst für mich vor Deinem Tod, die ständig präsente Gegenwart eines liebenden Menschen, in dessen Nähe ich mich so geborgen fühlte, dass ich mich im kindlichen Spiel immer frei und ungehindert bewegen, und meine Umgebung erkunden konnte. Durch
Deine Anwesenheit fand ich Sicherheit und Halt. Wenn ich hungrig war, bekam ich untertags ein Butterbrot mit Marmelade, und zur Nacht den Abendsegen mit Weihwasser. In stillen Stunden spielte ich zu Deinen Füßen, während Du betetest. Nie konnte ich Dir sagen, wie wichtig Du für mich warst, um Dir für alles zu danken. Du hast es aber sicher genau so bemerkt wie ich, obwohl wir nach meiner Erinnerung kaum Worte dazu nötig hatten. Wie dankbar war ich aber für Deinen Rosenkranz, der mich an Dich erinnerte, mit dem ich mich zur Nacht in den Schlaf betete.

Lange hatte ich die innere Versteinerung wie einen Schutzmantel nötig, bis ich mich, durch andere Erfahrungen gereift, nach und nach auch wieder an die schöne gemeinsame erlebte Zeit vor Deinem Tod erinnern konnte. Diese Erlebnisse habe ich später, wie ein kostbares Gut, sorgsam geborgen. Warum sollte ich nur Deinen Tod und nicht auch das Schöne im Zusammenleben mit Dir, vor dem Vergessen bewahren? Wenn wir nicht eine gesegnete Zeit miteinander erlebt hätten, dann hätte ich mich nach Deinem Tod ja nicht so schrecklich allein gefühlt. Damals fand ich keine Worte, denn mein Leben hatte allen Glanz verloren. Die überwältigenden Gefühle von Angst, Trauer, Schmerz, Wut und Enttäuschung, hatten mir den Mund verschlossen. Wie sollte das Leben ohne Dich weiter gehen, wer würde mich wieder lieben, mir Halt und Sicherheit geben? Auch die Frage, warum dies alles geschah, quälte mich sehr? Mit zwölf Jahren war ich auf einen Schlag vom Kind zum Mann geworden. Damals fand ich keinen Ausdruck für meinen Schmerz und wagte nicht einmal diesen ungeheuren Verlust zu beklagen. Heute aber darf ich Dir, Großmutter, mir selbst und auch anderen Menschen zum Trost erzählen, wie sehr ich Dich einst vermisste, und wie folgenschwer Dein Tod für mich war. Wäre dieser Verlust jedoch nicht zu spüren gewesen, dann hätte ich Dich nicht wirklich geliebt.

Heute muss ich aber deswegen nicht mehr zu einer Salzsäule erstarren und verstummen, um mich vor überwältigenden Gefühlen zu schützen. Ich hatte ja, nach Dir, im Laufe des Lebens noch viele andere Todesfälle zu beklagen. Es war mir aber dann, wie beim Tod meiner Eltern, Geschwister und anderer, für mich bedeutender Menschen möglich, deren Tod als eine zum Leben gehörende Tatsache zu beweinen, um mich durch die Trauer hindurch mit Gottes Hilfe wieder dem Leben und seinen Herausforderungen zu stellen. Genau das hast Du mir, Großmutter und Ihr alle, die Ihr mein Leben fürsorglich begleitet habt, sicher gewünscht. Ihr habt uns ja nicht verlassen, um uns über Euren Tod hinaus, lebenslang Schmerzen zu bereiten.

Daher kann ich Euch, die Ihr den Pilgerweg vor uns gegangen seid, nur sagen: „Vergilt o Herr, weil ich nicht kann, das Gute, das ihr mir getan.“ Was wäre ohne Euch aus meinem Leben und unserem christlichen Glauben geworden? Nun ist für heute alles gesagt. Bleiben wir einander über den Tod hinaus in österlicher Hoffnung, Liebe, und in der Fürbitte für alle Menschen. mit ihnen und Gott verbunden.

Euer Franz

 

 

Kirchgang

Ich erinnerte mich gelegentlich lebhaft an meinen Schwiegervater: Zeitlebens an Pünktlichkeit gewöhnt, sah ich ihn wieder mit zerknautschter Miene abreisefertig an der Tür seines Hauses stehend, auf die Armbanduhr pochend, und eine seiner Töchter erwartend. Längst hatte mich dieses Schicksal auch ereilt: Selten kam ich mit meiner Frau pünktlich, manchmal auf den letzten Drücker; oft aber, „cum tempore“, einige Minuten zu spät zu den Veranstaltungen. Ich werde es wohl nie verstehen, welche Aufgaben sie unbedingt noch erledigen musste, bevor wir unser Haus verließen. Diese Neigung scheint irgendwie genetisch determiniert zu sein, denn unsere drei Töchter folgten exakt dem gleichen Muster.

An einem schönen Sonntag nahm das Geschehen eine seltsame Wende: Ich saß am Vorabend vor dem Bildschirm und wartete, bis mit reichlicher Verspätung ein Boxkampf im Schwergewicht um den Titel zu sehen war. Diese für mich selbst unerklärliche Neigung, habe ich bislang mit allen mir zu Gebote stehenden Mitteln, in unserer Familie standhaft verteidigt. Das war nicht leicht, denn meine Frau und die drei Töchter hielten mir unentwegt, den Spiegel guter Sitten vor Augen mit der Bemerkung: „Boxsport passte nicht zu meinem christlichen Weltbild“. Und nun saß ich am Sontagmorgen, wie sonst bei ähnlichen, nächtlichen „Verpflichtungen“, unausgeschlafen und reichlich verspätet am Frühstückstisch.

Meine Frau erinnerte mich mit der Frage: „Hättest du Lust mit mir in die Stiftskirche zu gehen?“, an ein Vorhaben, das mich die letzten Tage auch schon bewegte. Dort, fuhr sie fort, könnten wir im Rahmen eines festlichen Gottesdienstes, Bach-Kantaten mit Orchester, Chor und Solisten hören. Ich überlegte kurz, schaute auf die Uhr, und bemerkte: „Es ist relativ spät! Wenn ich mich aber mit der Toilette beeilte, könnten wir noch rechtzeitig in der Kirche sein“. Nach wenigen Minuten saßen wir im Auto:

Wir näherten uns Backnang. Der fortgeschrittenen Zeit wegen, hatte ich mir bereits eine Route links herum ausgedacht. Ich musste aber allezeit mit Überraschungen rechnen; so geschah es auch jetzt: Meine Frau fuhr aus unerfindlichen Gründen anders, und trotz aufwendigerer Fahrzeit, rechts herum durch die Stadt zur Kirche. Ich unterdrückte einen Kommentar und schaute auf die Uhr: Es war tatsächlich schon drei Minuten nach zehn Uhr. Trotz der Eile erlaubte ich mir noch die überflüssige Frage: „Wo parken wir nun?“ Rasch entschieden schlug sie vor: „Du kannst jetzt hier vor der Kirche aussteigen, während ich eine Parkmöglichkeit suche.“

Die Leser sollten wissen, dass es nicht das erste Mal in meinem an ähnlichen Erfahrungen reichen Eheleben war, dass wir, obwohl ich immer bemüht bin, pünktlich zu sein, bei Veranstaltungen regelmäßig zu spät kommen. Der mir in der gegebenen Situation zustehende Ärger, konnte sich aber leider nicht mehr voll entfalten, denn ich hörte schon Musik und Gesang in der Kirche. Jeder andere vernünftige Mensch würde sicher, ebenso wie ich, den nächsten offenen Eingang zur Kirche suchen, um nicht zu viel von dem festlichen Geschehen zu verpassen. Also auf ging’s! Nichts wie rein, durch die erstbeste offene Türe.

Meine Überraschung war perfekt, als ich mich danach, nicht wie erwartet, im Kirchenschiff, sondern unabsichtlich im Chor der Stiftskirche befand. Dieser schmucke Raum mit seinem nach oben strebenden gotischen Gewölbe, war mit einigen blau bezogenen, bequemen Stühlen ausgestattet. Nur ein älterer Herr saß da. Er schaute mich etwas verdutzt an, und wies mir dann einen Platz neben sich zu. Es hielt ihn aber nicht lange auf seinem Stuhl. Nach und nach entpuppte er sich als Kirchendiener, denn er eilte beständig zwischen der Sakristei und einem hinter einer Säule versteckten Programmblatt hin und her.

Der freundliche Herr ließ sich trotz meines überraschenden Eindringens in seine „Residenz“, und meiner leichten Irritation, nicht aus der Ruhe bringen. Neben den anderen Aufgaben hatte er es ja jetzt noch mit mir zu tun. Er besorgte mir ein Gesangbuch. Dies nützte mir leider wenig, denn ich konnte von meiner Position aus weder die Liedtafel sehen, noch die Lautsprecheransagen deutlich verstehen. Der freundliche Kirchendiener bemerkte meine Verlegenheit und handelte:

Ein nachgefragtes Programm war zwar nicht mehr verfügbar, anstelle dessen brachte er mir aber ein Blatt, das alle für den Gesang der Gemeinde vorgesehen Lieder enthielt. Das Schlimmste war somit vorerst überstanden. Ich entschied mich daher hartnäckig, auf dem mir schicksalhaft zu gewiesenen Platz in der Stiftskirche zu verharren, und den Chor nicht zu verlassen, möge geschehen, was da wolle.

Der wunderschöne Gesang mit instrumenteller Begleitung und den Solisten, entschädigte mich für die Aufregung und zog mich immer mehr in seinen Bann. Endlich konnte ich wieder einmal Bach, wie sich´s gehört, in einer Kirche und nicht nur im Konzertsaal hören. Die Musik und die einladenden Worte der Pastorin, alle Sorgen fahren zu lassen, sich dem Herrn anzuvertrauen, seiner Einladung zu folgen, und Ihm zu Ehren ein fröhliches Fest zu feiern, entsprachen voll meiner Stimmung. Die Seele fing an sich zu regen, wohl zu fühlen, Gemüt und Gedanken zu bewegen:

Obwohl sich keine weiteren Besucher zu mir und dem Kirchendiener gesellen wollten, fühlte ich mich zugehörig, betrachtete die vielen Gläubigen mir gegenüber im Kirchenschiff, und war Auge und Ohr für das Geschehen um mich. Immer mehr genoss ich das Geschick, die Stiftskirche unabsichtlich durch einen Eingang in den Chorraum betreten zu haben, und dadurch einen „Gottesdienst verkehrt herum“ mitfeiern zu dürfen. Auch nicht schlecht, dachte ich, und erwartete neugierig die nächsten Ereignisse. Und es geschah einiges:

Ich sah das Altarkreuz von hinten. So konnte ich mich leichter mit dem Herrn am Kreuz identifizieren als sonst. Meistens schlug ich die Augen nieder, wenn ich den von uns allen geliebten Herrn, auch um meinetwillen am Schandpfahl hängen sah. Nun schaute er aber zu meiner Entlastung die Gemeinde an, der ich ja gegenüber saß. Ich habe mir hinter dem Rücken des Herrn gewünscht, dass er die Gemeinde, zu der ich ja auch etwas versteckt gehörte, bei diesem festlichen Geschehen recht freundlich anschauen möge. Er kam mir aber auch im Zeichen des leeren Kreuzes sehr nahe. Und wie immer, wenn der Herr die erschütterten Seelen tröstet, kommt der Heilige Geist zu Hilfe: Seiner Eingebung folgend, richtete ich meine Blicke hoffnungsvoll auf eine Statue des glorreich Auferstandenen an der Wand im Chor. Das österliche Siegeszeichen wirkte prompt. Wie durch ein Wunder, verscheuchte es alle skurrilen Gedanken, und legte sich wie Balsam auf die bewegte Seele.

Die Exegese der Pastorin über die Erzählung von der Einladung des Herrn, am Mahl der Liebe teilzunehmen, und die darauf folgenden vielen Entschuldigungen, die Er sich anhören musste, trafen mich. Ebenso die Worte an den Mann von der Straße: „Warum hast Du kein hochzeitliches Gewand -antwortender Liebe- an“? Da saß ich nun auf meinem Stuhl und hörte, dass der, der die Liebe Gottes ausschlägt, auf ewig verworfen sei. Wer könnte da noch vor Gott bestehen, wenn Jesu Barmherzigkeit uns nicht wie ein Christopherus auf seine Schultern nähme, und unsere Armseligkeit und Schuld mit dem Mantel barmherziger, erlösender Gnade zudeckte. Und dergleichen geschah -wie im Verborgenen- hinter dem Altar der Stiftskirche.

Als es mir gelang, mit kräftiger Stimme zu beten und zu singen, war ich nicht nur mit der Gemeinde vor mir, sondern auch im Rücken der Pastorin, mit ihr in Verbindung. Und niemand, auch meine Frau konnte es ahnen, wie wohl mir zumute war, bei einem festlichen Gottesdienst verkehrt herum, als katholischer Christ in der evangelischen Stiftskirche so viel Gnade zu erfahren. Ohne Scheu oder falschem Stolz, schlug ich ein Kreuzzeichen, mit dem ich mich zu Vater Sohn und dem Heiligen Geist bekannte. Es war das Schönste und Beste, was ich den Menschen hier, in einer Gott lobenden, Gott preisenden, evangelischen Gemeinde schenken konnte.

Meditation

Liebe Leserinnen, liebe Leser

ich erlebte in einer Meditation eine sehr tiefe Begegnung mit der Allerheiligsten Dreifaltigkeit in folgender Weise:

Zentral war die Erfahrung, dass wir alle, und die gesamte Schöpfung vor und in aller Zeit, in Gott unseren Ursprung und Halt haben, und uns eine tiefe Sehnsucht und Freude, wieder zu Ihm zurückkehren zu dürfen, erfüllt. Das „Auge Gottes“ war für mich in dieser Betrachtung nichts Böses, sondern ein göttlich guter Blick, der über all Seinem Eigentum waltet, um uns in dieser Erdenzeit vor dem Bösen und jeglichem Unheil zu bewahren.

Ich erlebte in der Stille der Meditation auch eine Gegenbewegung: Als ob mein Herz schon lange Gott gehörte, und ich Ihm, als Boten Seiner Liebe, alle Menschen, Erfahrungen und Impulse verdanke. Ja, dass ich den Dreifaltigen Gott, Vater, Sohn und Heiligen Geist, in mir, um mich und über mir uneingeschränkt liebe, und Ihm mein Herz meinen Leib und meine Seele, mit der Bitte um Seinen Schutz und Segen für alle Menschen und Geschöpfe, anvertraue.

Zugleich machte ich die Erfahrung, als ob der Herr alle meine Sinne, meine Hände, Füße, Augen, Ohren, den Mund, Geist und Verstand benötigte, um Ihm in allen Begegnungen mit Menschen und Dingen dieser Welt zur Verfügung zu stehen. Mich bewegte auch das Anliegen der Gottesmutter, wie Sie, Fürsprache für alle Wesen bei Gott einzulegen, damit Gott der Herr uns gnädig bleibe. Wer bittet empfängt, wer sucht der findet, wer anklopft, dem wird aufgetan – so spricht der Herr!

Bleiben Sie im Segen!
Ihr Franz

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