Ein treuer Freund

Ein Ehepaar hatte sich mit einem Freund vereinbart. Er sagte zu seiner Frau: »Auf ihn können wir uns verlassen, Josef wird sicher pünktlich sein«. Sie zweifelte und meinte: » Er hat doch eine weite Reise vor sich. Bei dem lebhaften Verkehr auf den Straßen, muss man immer mit Staus rechnen«. Er blickte auf seine Uhr und sagte: „ Es sind noch zehn Minuten, bis zum vereinbarten Termin.“

In vielen Jahren gemeinsamer Tätigkeit in einer Firma, hatte er seinen Freund als einen tüchtigen, verlässlichen Menschen kennen und schätzen gelernt. Josef war ein bescheidener, lebensfroher und intelligenter Mensch, der sich nicht nur in seinem Beruf, sondern auch in vielen Belangen des täglichen Lebens zurecht fand: Er verstand es, sein Motorrad in Teile zu zerlegen und wieder zusammen zu bauen, ohne dass etwas übrig blieb. Sportlich vielseitig interessiert, gehörte er in seiner Altersgruppe als Marathonläufer, und in anderen Sportarten zu den Besten. Josef erledigte alle ihm übertragenen Aufgaben sehr gewissenhaft, liebte die klassische Musik, und interessierte sich für philosophische und ethische Themen. Er stand zu seiner christlich geprägten Weltanschauung, und ertrug mit Würde seine skurril anmutenden Sonderheiten:

Josef war ein überzeugter Vegetarier und trug aus Gründen der Pietät, auch aus der Mode gekommene Schuhe und Kleidungsstücke seines Onkels, der als Pädagoge an einem Gymnasium tätig war. Mit Frauen tat er sich schwer: Eines Tages kam es zwischen ihm und einer attraktiven Sekretärin zu einer lebhaften Auseinandersetzung. Josef versuchte sich ihr auf philosophischem Wege zu nähern, und brachte dadurch die Sekretärin, die nichts von Philosophie verstand, zur Weißglut. In Ihrem Zorn nahm sie ein viereckiges, an den Kanten metallverstärktes Lineal zur Hand, und schlug damit so hart auf den »Philosophen« ein, dass es in Stücke zerbrach. Josef wehrte sich nicht sonderlich, und schützte seinen Kopf nur notdürftig mit den Armen. Er verzichtete aber notgedrungen auf den von der Sekretärin nicht erwünschten philosophischen Dialog, und flüchtete im Rückwärtsgang aus deren Büro. Wie Josef dennoch eine lebenstüchtige, charmante Vegetarierin fand, und mit ihr zusammen in langjähriger Ehe einer Schar Kinder die Wege in deren Leben ebnete, grenzte an ein Wunder. An diesem Eheglück waren Josefs Kollegen nicht zufällig beteiligt, denn sie informierten ihn darüber, dass in der Nähe eine hübsche Apothekerin arbeite. Dies hatte zur Folge, dass er noch am selben Tage deren Dackel Gassi führte. Für alles, was sich daraus ergab, trugen aber Josef und seine attraktive Vegetarierin gern die volle Verantwortung

Viele Jahre hatte der Mann seinen Freund nicht mehr gesehen. Nun ergab sich aber ein Anlass, ihn zu einem Besuch einzuladen, denn. das Ehepaar trug sich mit dem Gedanken, ein älteres Haus zu kaufen. Das Objekt sollte von einem Fachmann besichtigt, auf versteckte Mängel untersucht, und die Kosten für deren Beseitigung eingeschätzt werden, Der Ehemann erinnerte sich an seinen Freund, der als erfahrener Bauingenieur zu dieser Aufgabe geeignet schien, besprach sich mit seiner Frau, und bat ihn um die Begutachtung des Hauses. Josef sagte zu; und wenn er einmal zusagte, galt sein Wort. Da fuhr auch schon, fünf Minuten vor der vereinbarten Zeit, ein Auto vor, und er stieg aus. Obwohl Josef wie früher schlank und athletisch geblieben war, hatten die Jahre doch Spuren in seinem Äußern hinterlassen. Die Freunde begrüßten sich freundlich. Der Ehemann stellte ihm seine Frau vor und sagte: »Josef, treibst Du immer noch so viel Sport wie früher? « Er antwortete: »Eigentlich nicht. Ich habe in den letzten Jahren nur noch an Marathonläufen in meiner Altersgruppe teilgenommen, um mich fit zu halten.

Sie besichtigten zusammen das Haus, und hatten es Josef zu verdanken, sich nicht auf den Kauf, bei einem erheblichen finanziellen Aufwand wegen des notwendigen Umbaus, eingelassen zu haben. Der Freund nahm gern die Einladung zu einem Gespräch in der Wohnung des Ehepaares an. Josef lehnte aber mit einer freundlichen Geste die angebotene schwäbische Spezialität „Käsespätzle mit Salat“ ab, und bat an dessen Stelle nur um trockenes Brot. Genüsslich kauend versicherte er den Gastgebern, wie gut es ihm schmecke. Ja, Josef war in mancher Hinsicht ein „Sonderling“, aber ein äußerst liebenswerter, und ein treuer Freund.,

Herbststimmung

 

Sie taumeln herunter wie aus vergangener Zeit und liegen zuhauf. Mutter Erde breitet weit die Arme aus, hält und sammelt alle. Da liegen sie. Kein Windhauch wirbelt die Blätter auf. Für eine kleine Weile scheint für sie hier auf Erden die Zeit still zu stehen. In herbstlich leuchtenden Farben bedecken die Welkenden den spärlich vorhandenen Rasen, als wollten sie ihn mit einem Mantel aufgestauter Sommerwärme vor den anstehenden kalten, und regnerischen Tagen schützen.

Es sind dieselben Blätter, die vom Frühjahr an, still und leise, wie es ihre Art ist, die Büsche und Bäume bekleideten, und uns mit ihrem Spiel in Sonne und Wind erfreuten. Mit ihnen sind auch wir unmerklich und unaufhaltsam durch die Sanduhr unserer Zeit geglitten. Wehmut und Trauer berühren unser Herz, wenn wir es zulassen, dass  wir alle, wie die uns umgebenden Natur, auch in den Kreislauf des Werdens und Vergehens eingebettet sind.

Selbst wenn wir sicher wissen, dass sich unsere Bäume und Büsche nach Herbst und Winter, in jedem Frühling  wieder in einem schmucken, grünen Blätterkleid vorstellen werden, bleibt es auch dem “homo sapiens”  nicht erspart, dereinst wie alles in der Natur zu enden. Vor Zeiten benannten bereits die Griechen dieses unausweichliche Geschehen als “Chronos”, um daran zu erinnern, dass alles fließt und vergänglich sei. Rilke verwies in einem seiner Gedichte im Bilde der herbstlich fallenden Blätter auch auf das eherne Gesetz der Zeit, aber ebenso hoffend, dass „Einer“ sei, der sie einmal unendlich sanft in seinen Händen auffange.

 

Die Kapelle

Wir sind unterwegs: Die Luft ist diesig und steht an diesem heißen Sommertag flimmernd über dem steinigen Weg, der zu einem kleinen Waldstück in der Nähe führt. Meine Frau und deren Schwester gehen in angeregtem Gespräch voraus. Ich bleibe mit beiden Kindern immer mehr zurück. Wir können das Tempo der Frauen nicht halten. Die Trippelschritte der Kleinen geben nicht mehr her. Auch mir ist nach einer bedächtigeren Gangart. Die Kinder stimmen bereitwillig zu, als ich ihnen, der brütenden Hitze wegen, eine Ruhepause vorschlage. Wir setzen uns an den Wegrand, lassen die „Großen“ ziehen. Bunte Steine unterschiedlicher Größen, körniger, durch die Einflüsse der Witterung aus dem Fels gebröselter Sand, da und dort ein trockenes Holzstück, möchten mit uns spielen. Im Handumdrehen verzaubern die Kinder den gewöhnlichen Fahrweg in eine Spielwiese. Ihr emsiges Treiben, das ich anerkennend beobachte, drängt mich, mit zu werkeln. Wie absichtslos beginnen meine Finger Figuren in den lockeren Sand zu malen.

Doch plötzlich verändert sich überraschend die sorglose Heiterkeit des Sommertages. Als ob ich blind und schwerhörig geworden wäre, erscheint das Spiel der Kinder und die Natur wie hinter einem Vorhang zunehmend unerklärlich fremd und unnahbar. Eine unerwartet ängstliche Stimmung, kündigt sich in einer Spannung im ganzen Körper an. Das Herz pocht bis zum Halse. Ähnliches hatte ich bisher nur einmal mit 40 Jahren auf einem Spaziergang um den Schluchsee im Schwarzwald erlebt. Dabei wurde mir unabweisbar klar, dass aller Menschen Leben und auch meines endlich sei. Einer Eingebung folgend, stellte ich mich damals in die lange Reihe meiner Vorfahren. Bauern, die ihre Felder bestellten, die Ernte einfuhren, Familien gründeten und sich nach einem arbeitsamen Leben ins Unausweichliche schickten. Die Vorstellung, mit ihnen im gleichen Boot bleiben zu wollen, war tröstlich, wie ein Händedruck unter Freunden.

Meine Kinder indes, vergnügen sich derweil unbekümmert und arglos neben mir im Sand. Ihr emsiges Spiel, scheint sie abzuschirmen. Es ist nicht zu erkennen, dass sie meine momentane Unsicherheit, Angst und Trauer bemerken. Die Stimmen der Frauen verlieren sich in der Ferne und dringen nur noch als unverständliche Wortfetzen an mein Ohr. Auch die Vögel haben sich in den schattigen Wald verkrochen. Ihre matten Stimmen sind fast nicht mehr zu hören. Nur einige Schmetterlinge strahlen den Kindern gleich, Lebensfreude aus. Unermüdlich tanzen sie in der leichten Brise auf und ab und flattern um uns herum. Doch, was ist denn das?

Plötzlich höre ich mitten in meiner unerklärlichen Notlage, von weit her Gesang. Es sind Melodien, wie aus einer anderen Welt, die ich schon lange nicht mehr hörte. Alte, vertraute „Marienlieder“. Sie dringen aber jetzt nicht nur an mein äußeres Ohr. In der momentanen Verstimmung öffnen sie eine innere Tür, die mir ein tröstendes Hören ermöglicht. Ich unterbreche spontan mein Spiel im Sand, richte mich auf und wittere, wie ein waches Wild, in Richtung des Gesanges. Woher konnten in dieser einsamen Gegend Melodien kommen? Unter einem unwiderstehlichen Drang, nehme ich meine beiden Kinder an der Hand und folge dem Klang der Lieder. Sie führen uns den Weg zurück, bis wir am Horizont die Umrisse einer kleinen Kapelle entdecken, an der wir zuvor achtlos vorbei gegangen waren. Eine der kleinen Wegkapellen, die im Schwarzwald öfters anzutreffen sind. Steine und Holz aus der Umgebung bilden das Baumaterial. Außen mit grobem Putz versehen, der Innenraum meist schlicht gestaltet. Einfache, zur Andacht ladende Bänke, ein Kreuz mit Marienbild und ein Strauß frischer Feldblumen auf dem kleinen Altar, bilden die Ausstattung. Schwarzwälder Bauern haben hier Hand angelegt, das ist aus allen Details zu spüren.

In immer schnelleren Schritten kommen wir der Kapelle endlich nahe. Es besteht kein Zweifel. Aus diesem schlichten Andachtsraum erklingen die frommen Lieder. Unsichtbare Fäden ziehen mich mit den Kindern in die Kapelle hinein. Leise, um die Sänger nicht zu stören, öffnen wir die Türe und nehmen auf den rohen Bänken Platz. Vater, Mutter und Kinder, „Wanderer wie wir“, sitzen dort und singen aus vollem Herzen: „Maria breit den Mantel aus…, Segne mich Maria…“ und andere Lieder, die mir seit Kindertagen im Ohr liegen. Ich sitze mit meinen Kindern da und lausche ergriffen. Es verschlägt mir die Stimme. Ich kann nicht mitsingen, bin einfach nur da, betroffen und getroffen. Die Nähe zur Gottesmutter, vielleicht zu allem Mütterlichen, wird in diesem Raum spürbar. Die Lieder von Sehnsucht, Wehmut und Geborgenheit, wirken wie eine Antwort auf meine augenblickliche Sprachlosigkeit.

Seit Jahren hatte ich nicht mehr geweint. Nun flossen die Tränen. Wie aus einer reinen Quelle perlten sie die Wangen hinab. Schweigend, ohne die geringste Scham, ließ ich es geschehen. Die Tränen drückten ja weniger Schmerz, eher Freude und Glück aus. Ein in den Wirren des Lebens geschüttelter, verhärteter Mann, hatte in einer schlichten Kapelle, in frommen Liedern einer „Wanderfamilie“ geborgen, Trost erfahren und zu lassen können. Bis auf den heutigen Tag fühle ich mich bestärkt und getröstet, wenn ich mich an diese Kapelle im Schwarzwald erinnere. Es scheint zu stimmen: „Marienkinder gehen nicht verloren!“ Die kleine Kapelle im Schwarzwald möge mir verzeihen, dass ich sie einmal übersehen habe.

Der Küfermeister

Er hatte auffallend starke, kräftige Hände. Hände, die zupacken konnten. Die Finger wirkten etwas schwulstig, die Nägel waren nie auf Hochglanz poliert. Die schwere Arbeit hatte Schrunden hinterlassen. Wie viele Fässer mochte er als Küfermeister gefertigt und beschlagen haben? Auch wenn er von der Arbeit in einer Brauerei in der Schweiz zurückkehrte, fand er keine Ruhe. Unser Nachbar, ein bereits in die Jahre gekommener Vorrentner, erschien uns Kinder wie ein Riese, muskulös und von kräftiger Statur. Er flößte uns, wenn wir zu ihm aufschauten, allein schon durch seine Erscheinung mächtigen Respekt ein. Vater Hunsinger gehörte, ohne dass wir viel mit dem wortkargen Küfermeister redeten, in unseren jugendlichen Erfahrungsbereich. Nach getaner Arbeit widmete er sich ohne Pause unermüdlich seinem reichlich bestückten, großen Gemüsegarten. Dies war in den damaligen Kriegsjahren in der Stadt vonnöten. Unsere Mutter bekam gelegentlich von diesem Überfluss einen Korb mit Salat, Gurken Kraut oder anderem Gemüse ab.

Wir Kinder konnten in der Nähe von Vater Hunsinger ungestört spielen. Dieser stattliche, fleißige Mann war das krasse Gegenstück zu einer eher zänkischen Frau in unserer Straße, die sich über die Unruhe, die wir verbreiteten, stets beschwerte. Er war einer der wenigen Männer, die altersbedingt nicht zum Kriegsdienst eingezogen wurden. Ich hatte Vertrauen zu ihm und beobachtete ihn gern und oft durch den Zaun bei seiner Gartenarbeit. Er wirkte immer etwas ernst. Seine von reichlichem Alkoholgenuss rötliche Gesichtshaut mit der schon ins Violette changierenden, porösen, kräftigen Nase, und der von Falten zerfurchten Stirn, passten recht gut in das ovale Gesicht mit den lebhaften, gütigen Augen; ein Nikolaus-Gesicht, ohne Bart.

Wenn Vater Hunsinger sich mit seinen Rosen beschäftigte, die seine große Gartenanlage umsäumten, gewann er eine besondere Liebenswürdigkeit. Ich staunte immer, wie diese übergroßen Hände beim Schneiden und Pflegen der Rosen eine Zärtlichkeit entwickeln konnten, die ich ihnen nie zugetraut hätte. Seinen Lieblingen erwies er alle nur erdenkliche Pflege, als habe er sich verpflichtet, die Pracht und Schönheit jeder einzelnen Rose möglichst lange zu erhalten. Wenn eine Blüte ihre Blätter verlor, schien es „dem Rosen-Vater“, so nannten wir ihn, körperliches Unbehagen zu bereiten. Wir Kinder achteten diese Behutsamkeit sehr und waren nach Kräften bemüht, seinen Rosen bei unserem lebhaften Spielen nicht zu nahe zu kommen.

Es ließ sich aber nicht vermeiden, dass jedes Jahr zu Fronleichnam viele Rosen benötigt wurden. Den Mädchen fiel die Aufgabe zu, den Prozessionsweg vor dem „Allerheiligsten“ mit frischen Blumenblättern zu bestreuen. Vater Hunsinger musste bei dem Gedanken, dass wieder ein Ansturm auf seine Rosen drohe, sicher schlecht geschlafen haben. Der Konflikt, den bittenden Mädchen die Körbe zu füllen und seinen Rosen kein Leid anzutun, stand ihm ins Gesicht geschrieben, wenn er sorgfältig nur die Rosen auswählte, die kurz davor standen, ihre Pracht zu verlieren. Wie konnte ein solcher Riese, den Tränen nahe unter den Geschenken leiden, die ihm die munteren Mädchen abtrotzten? Ich tröstete mich bei dem Gedanken, dass dem Rosen-Vater ja noch viele Lieblinge übrig blieben.

Eines Tages, es war ein heißer Hochsommertag, bat mich Vater Hunsinger, ihm zu helfen. Er betreute in den Kriegsjahren in einem Gasthaus die Weinfässer. Diese mussten von Innen gesäubert werden. Das Spannende für mich war, dass er geheimnisvoll ankündigte: Ich sei mit meiner schlanken Gestalt sehr gut geeignet, durch ein Spundloch der Fässer zu schlüpfen, um die Reinigung vorzunehmen. Es war mir zwar mehr als mulmig zumute, bei einem solchen Unternehmen mitzuwirken. Er sprach aber betont meinen Mut an und dass er mir das durchaus zutraue. So bei meinem jungenhaften Stolz gepackt, entschloss ich mich, nachdem meine Mutter keinen Widerspruch einlegte, dieses Abenteuer anzugehen.

Wir zogen los Richtung Sängerhalle, so hieß das besagte Lokal. Dort wurden wir von der Wirtin freundlich empfangen und zum Weinkeller geleitet. Es ging einige Stufen auf einer Holztreppe hinunter in einen nur spärlich beleuchteten, eher dunklen Raum. Auf Holzgestellen aufgebockt, befanden sich recht große Weinfässer. Nie zuvor hatte ich so etwas gesehen. Nun näherten wir uns einem Fass. Das Spundloch war offen aber nicht sehr groß. Vater Hunsinger befestigte an meinem Hemd eine Taschenlampe und übergab mir eine an einem längeren Stiel befestigte Bürste. Seine Anweisungen waren kurz und bündig: „Ich solle mit den Händen über dem Kopf durch die Öffnung in das Fass schlüpfen“. Soll ich wirklich schlüpfen oder in letzter Minute kneifen? Ich schluckte meine aufsteigende Angst hinunter, nahm meinen restlichen Mut zusammen und zwängte mich durch das enge Spundloch. In einem Fass war ich zuvor noch nie gewesen. Werde ich da auch wieder lebend herauskommen? Da unterbrachen energische Anweisungen des Küfermeisters meine Betrachtungen: Ich solle jetzt gefälligst mit der Reinigung des Fasses beginnen! Er kontrolliere meine Arbeit durch das Spundloch und helfe mir gegebenenfalls mit entsprechenden Hinweisen. Ich brauchte sie nicht. Mir fiel aber ein Stein vom Herzen, als ich das erste Fass wieder wohlbehalten verlassen konnte.

Vater Hunsinger hatte inzwischen fachmännisch ein anderes Weinfass angehoben, aus dem er noch alten Wein abzapfen konnte. Zum Dank für die von mir geleistete Arbeit, bot er mir ein mit Wein gefülltes Probiergläschen an. Ich wurde den Verdacht nicht los, dass er selbst inzwischen mehr als ein Gläschen getrunken hatte. Es waren einige Fässer, die ich unter der Obhut des Küfermeisters reinigte. Ich schlüpfte zunehmend angstfreier und geschmeidiger in die Fässer. Ob das an der Belohnung mit einem Gläschen Wein nach jeder Reinigung zu tun hatte, kann ich nicht mehr genau erinnern.

Nach einiger Zeit meldete sich die Wirtin mit der Bemerkung, sie habe in der Küche ein Vesper für uns zubereitet und, nachdem sie mich und Vater Hunsinger in Augenschein genommen hatte, mit dem Zusatz, „getrunken hätten wir wohl schon!“ Ich konnte kaum ein Kichern verkneifen, als der Küfermeister mit tot ernster Stimme versicherte, wir hätten keinen Schluck getrunken. Nun ging es seltsam beschwerlich die Treppe hinauf in die Küche. Der Gegensatz zwischen dem dunklen Weinkeller und der von einem Deckenfenster taghell beleuchteten Küche hätte nicht größer sein können. Die Wirtin frug uns, was wir zu der Mahlzeit trinken möchten. Vater Hunsinger bestand unnachgiebig darauf, dass es wenigsten ein gutes Schnäpschen sein solle. Ich konnte nur mit größter Anstrengung das Lachen unterdrücken. Eine solche Fähigkeit zu lügen, hätte ich dem von mir verehrten Küfermeister nie zugetraut. Mit Dank entließ uns die Wirtin, nachdem wir gegessen hatten.

Es war äußerst befremdlich und ungewohnt, als wir beide, auf unsicheren Beinen, im gleißenden Licht des Sommertages Arm in Arm nach Hause wankten. Meine Mutter erfasste schlagartig die Situation. Es waren keine Lobeshymnen, die ich zu hören bekam. „ Ab mit Dir ins Bett, herrschte sie mich an!“ und danach war mir auch. Ich fiel in einen traumlosen Schlaf aus dem ich nach Stunden erwachte, ohne irgendwie Schaden genommen zu haben. Ganz im Gegenteil. Der alte Wein in einen keuschen Jungenmagen aufgenommen, hatte ein ausgesprochenes Wohlbefinden bewirkt. Diese gemeinsame Erfahrung „zweier Männer“ führte dazu, dass meine Freundschaft zu unserem Nachbarn, dem Rosen-Vater und Nachbarn, Rosenvater, Küfermeister, bis auf den heutigen Tag erhalten blieb.

 

 

Die Geburt

Sie atmet kurz, Schweißperlen stehen auf ihrer Stirn; ihre langen, blonden Haare, säumen klebrig-feucht, den Kopf. Im hageren, von Anstrengungen gezeichneten Gesicht, beginnen sich die Falten ein wenig zu glätten. Der zuvor schmerzliche Ausdruck weicht, als hätte die junge Mutter, es geschafft, eine schwere Aufgabe überstanden. Der weiße Bettbezug, lässt ihr bleiches Gesicht aber noch fahl erscheinen. Erschöpft, fallen ihr im Sekundenschlaf die Augenlieder immer wieder zu. Es scheint, als benötige sie Ruhe, Zeit, viel Zeit, sich zu erholen und zu begreifen, nun Mutter zu sein. Bald bringt ihr die Schwester das gottlob gesunde Baby. Nach langer Zeit bangen Wartens, kann sie ihren Sohn zum ersten Mal sehen und glücklich in die Arme nehmen.

Ein junger Mann, eilig unterwegs, stolpert durch die Drehtüre des Krankenhauses, -beinahe wäre er gestürzt -. Er hält sorgsam einen Strauß bunter Frühlingsblumen in Händen. Die Sekretärin in der Rezeption, sitzt vor ihrem Bildschirm und gibt mit schlanken, flinken Fingern Daten ein, als ob sie ihn nicht bemerke. Nach einiger Zeit wendet sie sich wie abwesend, routiniert, dem jungen Mann zu. Ihre Stimme ähnelte einer Fahrplanansagerin, als sie sich erkundigt, was er wünsche?

Hatte er in seiner freudigen Erwartung, zunächst Sympathie für die hübsche Frau hinter der Glasscheibe empfunden, so signalisiert ihm diese emotionslose Stimme nun: Abstand! Für einen Moment schlägt seine Stimmung um: Ärger lässt ihn steif werden und ebenso kühl zu reagieren, sein Anliegen, technisch-distanziert, vor zu tragen: »Wo finde ich die Gynäkologie, fragt er tonlos? » . Wie aus einem Automaten tönt es ihm entgegen: »Zwei Treppen hoch, dann rechts und geradeaus. Sie können auch den Aufzug benutzen. In der Eingangshalle finden sie einen Stationsplan«. Entgegen seiner Gewohnheit entfernt er sich wortlos und steigt, immer noch verstimmt, die Treppen nach oben.

In der Mitte eines langen Flures findet er das Stationszimmer des Pflegepersonals. Eine freundliche Schwester erklärte ihm, dass seine Frau in einem ruhigen, dem Garten zu gelegen Einzelzimmer liege. Man habe ihr das Baby zum Stillen gebracht. Er könne sie aber getrost besuchen. Die Geburt sei normal verlaufen, Mutter und Kind seien wohlauf. Eine wichtige Nachricht! Wollte er doch unbedingt bei der Geburt dabei sein. Nach Einsetzen der Wehen hatte er seine Frau besorgt ins Krankenhaus gefahren, sich aber dann auf Rat der Ärzte wieder nach Hause begeben.

Als ihn die Nachricht von der Geburt eines gesunden Sohnes verspätet erreicht, lässt der junge Vater in freudiger Erregung alles stehen und liegen und fährt verkehrswidrig schnell in´s Krankenhaus, um seinen Sohn zu sehen und seiner Frau nach der Geburt des ersten Kindes beizustehen. Lange hatte er mit ihr das werdende Leben begleitet, gebetet, und die Geburt eines gesunden Kindes sehnlich erwartet. Manchmal nahm sie seine Hand und legte sie auf ihren Leib, damit er fühlen konnte, wie kräftig sich ihr Kind bewege. Nun war er, sprachlos vor Glück, in der Erwartung, in wenigen Minuten seinen Sohn mit eigenen Augen sehen zu können.

Er klopft an die Türe. Eine müde Stimme antwortet: »Ja, bitte! « Dann tritt er ein. In dem vom Sonnenlicht durchfluteten Zimmer lächelt ihm seine Frau entgegen. Sie wirkt noch sehr müde und deutet auf ein in Windeln gepacktes kleines Bündel Leben. Nur der Kopf mit einer Andeutung von Haaren, das faltige Gesicht und die Hände mit den winzigen Fingern, sind frei. Die Augen des Babys sind nach dem anstrengenden Stillen geschlossen. Das ist er, »unser Sohn« flüstert sie, um das Kind nicht zu wecken. Er tritt näher. Zum ersten Mal begegnen sich Vater und Sohn.

Nach einigen erfüllten Minuten des Schweigens, findet der Vater seine Sprache wieder und es bricht aus ihm heraus: So habe er sich den»kleinen Mann« vorgestellt, genau so! Und zu seiner Frau gewandt: »Wie ist das möglich, unseren Sohn schon zu kennen, bevor ich ihn sehen konnte? « Sie lächelt still und glücklich, als er etwas verlegen an´s Bett herantritt und sie liebevoll küsst. In diesem Moment verzieht das Baby das Gesicht ein wenig. Der stolze Vater äußert im Brustton der Überzeugung, dass sein Sohn schon zu wichtigen Lebensäußerungen fähig wäre: »Er lächelt ja schon ein wenig! « Die Mutter entgegnet weise: »So ist das Leben, so sind die Männer!« Die Eltern können es nicht lassen, immer wieder ihr Kind und sich glücklich anzuschauen. Das lange Warten ist vorbei. Wie Blinde, die lange nicht sehen konnten, denen nun das Augenlicht wieder geschenkt wurde, so möchten sie ihr Glück, ihr Kind gesund sehen zu können, anderen Menschen mitteilen. Allen sagen, wie schön ihr Sohn wie hell das Zimmer und wie kostbar diese Stunde ist.

Zu Hause ist alles bestens vorbereitet: Eine Wiege und ein Wickeltisch in freundlichen Farben, stehen in einem ruhigen Kinderzimmer bereit. Die wenigen Habseligkeiten, die ein Kind in den ersten Lebenswochen benötigt, sind ausreichend vorhanden. Ein »musikalischer Mond« hängt von der Decke und eine Kinderrassel wartete darauf, kräftig gerüttelt und geschüttelt zu werden. Oft geht der junge Vater ins Kinderzimmer, schaut sich um, ob alles Nötige vorhanden ist und versucht sich vorzustellen, wie es sein würde, wenn seine Frau und das Kind zu Hause wären. Er kann es in aufkeimender Verantwortung für seine eigene Familie nicht lassen, seiner Frau zu erzählen, wie er alles nur Erdenkliche vorbereitet habe, damit es dem Kind und der Mutter wohl ergehe. Die Freude, nun eine Familie zu sein und mit ihrem Sohn zu Hause erwartet zu werden, leuchtet der Mutter aus den Augen. Sie strahlt über das ganze Gesicht, als sie dem jungen Vater den Sohn zum ersten Mal in die Arme legt. Er, verabschiedet sich zärtlich von seiner »Familie«, denn er kann sich sicher sein, dass das Warten bald ein Ende hat und Frau und Kind nach Hause kommen. Gemessenen Schrittes, mit hoch erhobenem Kopf, damit alle Menschen seine Freude und den Stolz, Vater zu sein, erkennen könnten, verlässt er das Krankenhaus. Sogar die Dame in der Rezeption bemerkt an seinem freundlichen Gruß, dass dieser Mann »auf Wolke – Sieben « schwebt.

Heute ist der Tag, an dem er endlich seine Lieben aus dem Krankenhaus abholen darf. Der junge Vater passiert gehobener Stimmung den Eingangsbereich. Die Sekretärin lächelt verbindlich. Er grüßt freundlich zurück mit der Bemerkung, er kenne sich inzwischen aus. Bereits einige Minuten vor der vereinbarten Zeit, betritt er mit einer neuen Tragetasche das Zimmer seiner Frau. Sie erwartet ihn schon »ausgehfertig« und packt das Kind sorgfältig in die Tasche. Der Vater lässt von da an, seinen Sohn nicht mehr aus den Augen. Es erscheint ihm auch fraglos selbstverständlich, dass es nur ihm zukomme, die Tasche mit dem Sohn zu tragen. Der ganze Mann spiegelt das Glück und den Stolz, Vater zu sein.Ihr Sohn, ein liebes- und hilfsbedürftiges Menschenkind, war von da ab unbestrittener Mittelpunkt der jungen Familie. Mit seiner »kräftigen, männlichen Stimme« vermag er bis zum heutigen Tag, all das einzufordern, was er zur Ernährung, Pflege und Gesellschaft braucht.

Das Suchen und Finden

Vor einiger Zeit musste ich im Krankenhaus den Ehering vor einer Operation abgeben. Seit unserer Trauung vor Jahren, legte ich diesen Ring nie ab. Er war mir zu einem wichtigen Symbol unserer Ehe geworden. Diesen Ehering vermisste ich sehr. In meiner Not rief ich den Heiligen Antonius zur Hilfe. Er hat mich noch nie im Stich gelassen. Was hab ich nicht alles unter seinem Beistand in unserem Ehealltag wieder gefunden. Da ging die Türe zu meinem Zimmer plötzlich auf. Eine Schwester trat ein und zeigte mir an einem Plastikband einen Ring mit der Frage, ob ich ihn vermisse. Es war mein Ehering.

Manchmal gelang es mir auch im Alltag, einen Gegenstand, Haus- oder Autoschlüssel, ohne einen himmlischen Beistand durch gezielte Überlegungen wieder zu finden. Dieses Suchen und Finden erlebe ich derzeit auch in Hamburg zusammen mit unserer Tochter Veronika und den bald zweijährigen Enkeln. Wenn sie sich hinter ihren Händen oder unter dem Badetuch verstecken, um dann wieder gefunden zu werden, strahlen sie jauchzend über das ganze Gesicht.

Das stetige Suchen und Finden begleitet uns auch auf unserem ganzen Lebensweg: Wie oft suchte ich nach einem Wort, einem Begriff oder passenden Ausdruck für ein Ereignis. Auch neulich, als ich den Text „die Spukgestalten und Geister“ geschrieben hatte, entstand ein Zustand spannungsgeladener Erwartung und Neugier. Ich habe gelernt, dass es in solchen Situationen gelegentlich hilfreich war, sich eine kleine Pause zu gönnen, um Abstand zu gewinnen. Danach konnte es geschehen, dass mir das gesuchte Wort, der Begriff oder einige passende Aphorismen wieder einfielen.

Ich überließ mich daher dem Spiel der Gedanken, in der Hoffnung, dadurch ein neues Ziel zu finden, das mit meinem inneren Interesse übereinstimmen könnte, denn so entstanden viele meiner Texte. Vielleicht kennen Sie, liebe Leser, eine ähnliche Suche nach den nächsten Zielen Ihrer Aufmerksamkeit auch?

Da sich aber nach meiner letzten Geschichte auf diese Weise kein weiter führender Einfall einstellte, entstand die Frage, was die Störung des Suchprozesses für mich bedeute? Ich musste daher das Ziel des Suchens verändern und entschloss mich, nun diese Störung und deren Ursache zu untersuchen. Wir dürfen gespannt sein, was mir hierzu einfällt und wohin uns die Analyse dieser produktiven Hemmung führt?

Im Unterschied zu meinem früheren beruflichen und familiären Alltag, war beim Übergang in den Ruhestand ebenfalls eine Änderung der Blickrichtung gefordert. Es wurden weniger Aufgaben von außen an mich herangetragen. Als ich gleichzeitig zu schreiben begann, änderten sich auch die angestrebten Ziele: Zunächst war es für mich sehr gewöhnungsbedürftig, Pflichten abzugeben, dann aber gewann ich zusehends Freude an der mir geschenkten Freiheit, nun Herr über den Tag und die Stunden zu sein. Ich lernte zusehends mehr, auf die eigenen Empfindungen und meine Reaktionen bei Ereignissen in der Umwelt zu achten. Ich entwickelte auch ein Interesse, die eigenen Gedanken und Gefühle, meinen Lesern in verständlicher Form mitzuteilen. Mit anderen Worten: Ich lernte „aus dem Leben für das Leben“ Texte über das zu schreiben, was mir bedeutungsvoll erschien.

Heute wage ich es ja auch zum ersten Mal, den Blick auf eine Hemmung beim Schreiben zu richten, und den Zustand zu thematisieren, in dem ich mich manchmal vor der Geburt einer neuen Geschichte befinde, um zu prüfen, zu welchen neuen Zielen mich dieses Nachdenken führen könnte. Im Moment achte ich zum Beispiel nur darauf, was mir zum Thema „Suchen und Finden“ noch einfällt: Dem Sprichwort „wer sucht, der findet“ gemäß, ist der suchende Geist bekannter Weise ja immer in Bewegung auf ein zu findendes, lohnendes Ziel. Die Auswahl der Ziele scheint jedoch nach den individuell wechselnden Bedürfnissen der Suchenden, und der subjektiven Bewertung und Bedeutung dieser Ziele zu erfolgen.

Aus Erfahrung kann ich hoffen, dass auch mir durch die Untersuchung der Frage, was das Suchen und Finden für mich bedeute, eine neue Idee oder ein nächstes interessantes Thema einfallen könnte. Es scheint allerdings so, als ob die jeweils angestrebten Ziele, nur zum Teil die erwartete Befriedigung verschafften. Und dennoch treibt uns eine innere Unruhe ständig weiter an, Ziele zu verfolgen. Könnte es daher sein, dass die jeweils nicht voll befriedigenden Teilziele, die Spannung erklären, die sich nach der Verwirklichung eines solchen Zieles wieder einstellt?

Immer dann, wenn wir jedoch ein Ziel verfolgen, das mit unseren inneren Erwartungen, übereinstimmt, ist dieser Vorgang von der beruhigenden Erfahrung begleitet, trotz möglichen Unbehagens auf dem rechten Wege zu sein. So ging es mir auch seit dem Augenblick als ich mich daran machte, mit Ihnen über die Hemmung beim Schreiben und über Teilziele zu reden, von denen wir sicher wissen, dass sie uns nie voll zu befriedigen vermögen.

Das Nachdenken über meine Blockade setzte zwar den Prozess des Suchens und Findens wieder in Gang. Er führte aber zu einem anderen Hinblick des Erkennens: Unseren jeweiligen Teilzielen scheint demnach ein unerklärlicher Bedeutungsüberschuss zu eigen zu sein, der zur Frage führt, was letztlich unsere Suchbewegung über alle einzelnen Ziele hinaus verursachen könnte?

Mir fällt da der Satz von Augustinus ein “Unruhig ist mein Herz, bis es Ruhe findet in Gott“. Könnte es sein, dass dieser Satz genau unserer Suchbewegung entspricht? Bei unserem Suchen begegnen wir ja stets den Dingen und unseren Werken als Geschaffenen wie Teilzielen, die nicht voll befriedigen, sondern über sich hinaus auf mehr, letztlich auf Gott unseren Schöpfer verweisen. Sie ermahnen uns daher als Teilziele, alles Geschaffene nicht mit dem Schöpfer zu verwechseln.

Wenn aber schon die eigenen Kreationen und die Vielfalt der Dinge dieser Welt uns beeindrucken und erfreuen, wie groß muss dann unser Freude sein, den Schöpfer zu erkennen, der allen unseren Zielen hier auf Erden und dereinst in Ewigkeit, Dauer und Bestand verleiht?

Spukgestalten und Geister

In sagenumwobener Zeit herrschten einmal ein König und eine Königin im Fantasiereich Eurasien. Den Bürgern dieses Landes war es gestattet, in Freiheit zu leben. Von Kindheit an wurden sie in ihren Familien, in kostenfreien Schulen und Universitäten angeleitet, ihre Kritik- und Urteilsfähigkeit auszubilden, um Recht und Unrecht unterscheiden zu können. Da die Bürger gelernt hatten, Verantwortung für ihr Königreich Eurasien zu übernehmen und die gegebene Ordnung zu beachten, bedurfte es keiner strengen Kontrolle. Sie konnten sich im Königreich frei bewegen, ihre Meinung äußern und entscheiden, auf welche Weise sie ihre Fähigkeiten, Fantasien und Ideen zum Wohl des Landes und der Menschen nutzen wollten.
Eurasien wurde ähnlich verwaltet, wie andere Reiche in jener Zeit: Der König und die Königin von Gottes Gnaden setzten Minister, Beamte und Lehrer ein, denen es oblag, den Bürgern den Sinn und die Bedeutung aller Vorschriften und Regeln zu erklären. Die Bürger des Königreiches wurden daher mit der allgemeinen Ordnung so vertraut, dass sie in der Lage waren verantwortlich zu handeln. Sich in Gedanken frei und blitzschnell von Ort zu Ort bewegend, konnten sie Eurasien auch unkontrolliert verlassen, um andere Menschen kennen zu lernen.
Über viele Generationen hatte das Fantasiereich Eurasien schon Bestand. Königliche Verwalter überwachten im Reich die gerechte Verteilung des Vermögens und der Güter. Es herrschten deshalb schon lange Frieden, Recht, Ordnung und Wohlstand. Da bisher im Fantasiereich noch nie ein Haus abgebrannt oder ein Mensch zu Schaden gekommen war, brauchte es weder Polizei, noch Feuerwehr, Gesundheits- oder Rettungsdienste. Es gab damals im Land auch kein Fernsehen oder andere Medien. Alle Nachrichten wurden daher durch Gedanken übertragen, die blitzschnell und zielgenau ihre Empfänger erreichten. Seit Generationen gab es im Reich weder Konflikte noch  Kriege mit anderen Völkern, sodass Soldaten und Waffen entbehrlich waren.
Um aber sicher zu stellen, dass die königlichen Beamten die ihnen übertragenen Aufgaben auch erfüllen konnten, traf sich der König bei wichtigen Entscheidungen mit dem Kronrat in seinem Schloss zur Beratung. Als jüngst bekannt wurde, dass in Eurasien böse Geister als „Spukgestalten“ ihr Unwesen trieben, die es darauf absahen, die Entscheidungen der Bürger zu erschweren, bestand wieder einmal Anlass, den Kronrat einzuberufen.  Auf den heutigen Tag hatte der König die Mitglieder des Kronrates in sein Schloss eingeladen, um zu beraten, wie man den Bürgern Eurasiens bei der „Unterscheidung der Geister“ helfen konnte. Da es sich, um eine für den Bestand des Königreichs wichtige Frage handelte, hatte der König auch die Spukgestalten und guten Geister eingeladen, um sie als Zeugen vernehmen zu können.

Jetzt ertönte ein lautes Fanfarensignal, und alle Anwesenden erhoben sich von ihren Plätzen. Vom Hofstaat begleitet, betraten der König und die Königin in festliche Roben gekleidet, den hell erleuchteten Festsaal. Sie begaben sich gemessenen Schrittes zu ihren erhöhten Plätzen und setzten sich neben einander auf ihre Throne. Der Zeremonienmeister klopfte mit seinem Stab dreimal kräftig auf den Boden, erklärte mit lauter Stimme die Versammlung für eröffnet, und kündigte die Rede des Königs an.
Ein Beamter überreichte dem König eine Bulle. Nach einem kurzen Räuspern begann der Regent mit sonorer Stimme seine Rede: „Wir, Euer König und die Königin von Gottes Gnaden, haben aus gegebenem Anlass den Kronrat, Euch Minister, Beamte, Philosophen, Richter, Lehrer, und als Zeugen gute Geister und Spukgestalten, zur heutigen Beratung einbestellt. Sie wissen alle, dass unser geliebtes Reich Eurasien unter Gottes Schutz seit langer Zeit Bestand hat. Auf den Tag genau vor dreißig Jahren, übernahmen wir als König und Königin für die Dauer unseres Lebens die Regentschaft. Wir empfingen die Insignien,  Krone, Zepter, Reichsapfel und Schwert, und verpflichteten uns feierlich, in unserem Reich stets für Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit und Wohlstand zu sorgen. Das versuchten wir nach Kräften mit Eurer Hilfe. Wir und alle unsere Bürger Eurasiens befolgten während unserer Regentschaft, die zum Frieden und Wohlstand erlassenen Gesetze. Heute haben wir die Aufgabe darüber zu beraten, wie wir und der Kronrat den Bürgern unseres Landes bei der „Unterscheidung der Geister“ so beistehen können, dass sie den Eingebungen der guten Geister folgend, die Bedrohungen durch „Spukgestalten“ abwehren können. Wir wünschen unserer heutigen Beratung einen guten Verlauf und beauftragen den Zeremonienmeister, die Sitzung des Kronrates zu leiten. Gegeben im dreißigsten Jahr ihrer Königsweihe, Euer König und Eure Königin von Gottes Gnaden.“
Die Versammlung bekräftigte die Rede des Königs mit lautem Beifall. Dann klopfte der Zeremonienmeister wieder dreimal mit seinem Stab auf den Boden, gebot Ruhe und sagte: „Ich erteile zunächst dem Hofprediger das Wort. Dieser ging zu einem Lesepult, bekreuzigte sich mit den Worten im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, und sagte dann: „Ich erinnere uns heute daran, dass wir alle unsere Macht, Frieden und Wohlstand im Land zu erhalten, Gott verdanken. Unserem Herrn sei Ehre, Dank und Herrlichkeit in Ewigkeit.“ Es ertönte ein kräftiges, bestätigendes Amen.

Der Zeremonienmeister schüttelte nun eine Glocke, begab sich zum Lesepult und sagte: „Wie wir alle wissen, hat unser Königspaar keine Mühen und Kosten gescheut, allen Bewohnern unseres Reiches eine gediegene Bildung zu schenken, um uns auf ein Leben in Freiheit, Frieden, und Gerechtigkeit vorzubereiten. Wir wussten dies zu schätzen und leisteten alle unseren Beitrag hierzu. Unseren königlichen Verwaltern entging aber nicht, dass einige Bürger Eurasiens sich gelegentlich schwer entscheiden konnten. Manche Bürger wünschten sich sogar lieber Kontrollen, um sich nicht entscheiden zu müssen. Andere klagten darüber, dass sie bei ihren Entscheidungen durch „Spukgestalten“ behindert wurden. Es gab sogar Bürger, die weder an  Gott, noch an gute Geister oder Spukgestalten glaubten. Unsere Aufgabe ist es nun heute, über die „Unterscheidung der Geister“ zu beraten, und hierzu die geladenen guten Geister und Spukgestalten als Zeugen zu vernehmen.

Mit einem kräftigen Glockenzeichen beendete der Zeremonienmeister das Raunen im Saal und erteilte zunächst einem Philosophen das Wort:  Ein in die Jahre gekommener Mann mit weißem Vollbart trat hocherhobenen Hauptes an das Rednerpult und sagte: „Die uns gewährte Freiheit des Denkens bewährte sich seit langer Zeit als eine Hilfe, um die Bürger Eurasiens zu verantwortlichem Handeln zu führen. Sie schloss aber auch die Möglichkeit ein, alles bis zur Sinnlosigkeit zu bezweifeln. Dank der bei uns in Eurasien kostenfrei gewährten Bildung, vertrauten aber unsere Bürger bis heute in freier Entscheidung der allgemeinen Ordnung und setzten sich zum Wohle aller ein. Mit lebhaften Gesten meldete sich nun ein Lehrer zu Wort, begab sich ans Lesepult und sagte: „Wir Pädagogen erlebten bisher im Kontakt mit unseren Schülern und Studenten, spiegelbildlich Hinweise auf die in Eurasien von den Bürgern vertretenen Ansichten. Es wurden aber in den vergangenen Jahren so viele pädagogische Konzepte diskutiert, dass es uns immer schwerer fiel, die besten Lerninhalte für uns auszuwählen. Der Zeremonienmeister erteilte nun einem Minister das Wort: Dieser begann engagiert mit seiner Rede: „Wir waren, wie Sie alle wissen, als königliche Beamte dazu beauftragt, in unserem Reich für Recht und Ordnung zu sorgen, und alle Menschen angemessen am Wohlstand zu beteiligen. Als königliche Verwalter beobachteten wir aber, dass es Bürger gab, die ihre Freiheit immer mehr im eigenen Interesse nutzten, und das allgemeine Wohl weniger beachteten.“  Ein Richter trat nun ans Lesepult und sagte: „Bisher konnten wir in unserem Königreich weitgehend auf Kontrollen und Strafen verzichten, denn unsere Bürger und Beamten hatten die Ordnung und Regeln unseres Zusammenlebens so verinnerlicht, dass Recht, Ordnung und  Gerechtigkeit unter uns gewahrt wurden. Die auch in unserem Königreich erforderlichen Veränderungen und der Dialog mit anderen Völkern und Kulturen, machten aber unübersichtlich viele zusätzliche neue Gesetze und Vorschriften erforderlich.“ Der Zeremonienmeister erteilte nun ausnahmsweise einem Poeten das Wort: Dieser trat an das Lesepult und sagte: „Verehrte Mitglieder des Kronrates, obwohl mein Beitrag nicht vorgesehen war, bedanke ich mich für die Möglichkeit, hier zu reden. Bisher traten wir Künstler in allen unseren Werken für die Freiheit des Denkens ein und verwiesen durch unser zweckfreies Gestalten im kreativen und fantasiereichen Spiel mit unseren Ideen auf das Schöne in der Welt. Da manchen Bürgern Eurasiens aber der Blick hierfür verloren ging, empfahlen wir ihnen, im Interesse der Freiheit und der Künste, ihre verfügbare Zeit und ihre Fähigkeiten auch zu kreativem künstlerischem, literarischem und musikalischem Schaffen zu nutzen.“  Hierauf antwortete der Zeremonienmeister: „Wir haben bisher gehört, dass es manchen Bewohnern des Reiches nicht immer leicht fiel, im Alltag die jeweils richtigen Entscheidungen zu treffen. Deshalb wurden wir von unserem König und der Königin beauftragt im Kronrat zu klären, was uns bei der „Unterscheidung der Geister“ half oder hinderte? Ich rufe daher die als Zeugen geladenen Spukgestalten und guten Geister auf, sich zu Wort zu melden, damit wir sie und ihre Wirkungen besser einschätzen können.“

Ein Raunen ging durch den Festsaal, als die „Angst“, zerlumpt wie eine Vogelscheuche, zum Lesepult humpelte und sofort mit blecherner Stimme sagte: „Ihr werdet es mir nicht zutrauen, aber ich bin dafür zuständig und in der Lage, allen Menschen, auch Königen und Philosophen, Angst und Furcht vor Misserfolg zu bereiten, ihr Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zu schwächen, oder sie durch panische Furcht von ihren erforderlichen Entscheidungen abzulenken.  Da schließe ich mich gleich an, meldete sich die „Hemmung“ zu Wort. Sie trug als Zeichen ihrer Macht einen Bremsklotz bei sich und sagte:  „Ich war jederzeit in der Lage, Euch alle mit Bedenken und Zweifeln zu verwirren, von der Sinnlosigkeit Eurer Entscheidungen zu überzeugen, Euch den Antrieb und die Lust an Unternehmungen zu nehmen, und Euch körperliches Unbehagen zu bereiten“.  So ähnlich verhielt ich mich, begann der listig um sich blickende „Verwirrer“, als ihm das Wort erteilt wurde: „Meine Aufgabe war es immer schon, Menschen durcheinander zu bringen, dafür zu sorgen, dass sie sich in endlosen Debatten gründlich missverstanden, ihre eigenen Gedanken in einem Knäuel von Fragen zu ersticken, und sie bei ihren Entscheidungen zu Grübeleien und übermäßigen Sorgen zu verleiten.“ Darauf meldete sich der „Lügner“ vehement zu Wort: „Ich war schon lange damit beschäftigt, Menschen falsche Hoffnungen über ihre Fähigkeiten zu machen und sie in der Erwartung zu täuschen, andere Bürger ohne selbst Schaden zu nehmen, zum eigenen Vorteil belügen zu können.“  „Auch ich habe seit langer Zeit starken Einfluss auf die Menschen.“ Mit diesen Worten drängte sich die „Aggression“ energisch durch die Versammlung nach vorn zum Rednerpult. Stolz deutete diese maskierte Spukgestalt auf ihre Waffen, Pistolen und Säbel und sagte: „Die Geschichte offenbart meine Macht. Unter vielen Menschen konnte ich Feindschaft, Misstrauen, Krieg, Verwüstung und Schaden bewirken, wenn ich sie davon überzeugte, durch Anwendung von Gewalt Vorteile zu erzielen.“Der Zeremonienmeister meldete sich nun wieder zu Wort und sagte: „Ich erkläre die Vorstellung der Spukgestalten aus Zeitgründen für beendet, und bitte nun die guten Geister in den Zeugenstand um zu erfahren, was sie bisher bewirken konnten.“

Als erster guter Geist folgte die „Liebe“ der Aufforderung. Sie begab sich ans Rednerpult, schaute freundlich in die Runde und sagte: „In unserem Königreich Eurasien brauchten wir bisher wenig Kontrolle, weil ich als guter Geist in die Herzen der Menschen eingegossen bin
und sie durch Eingebungen des „Gewissens“ stets davor warnte, von den rechten Wegen abzuweichen, oder anderen Menschen zu schaden. Ich war auch immer als Geist der „Ermutigung“ zur Stelle, wenn sie sich in einer Notlage oder schwierigen Entscheidung befanden. Hier in ihren Herzen, dem Zentrum ihres Wesens, entschieden unsere Bürger welchen Eingebungen sie folgen wollten. Weil die Bewohner Eurasiens bisher die Ordnung der Liebe beachteten, waren weder strenge Kontrollen, noch Polizei oder Waffen erforderlich.“  In Eurasien herrschten allezeit „Gedanken- und Entscheidungsfreiheit“. Deshalb fühlten sich alle Bürger wie der König, die Königin und die königlichen Verwalter ermächtigt, ihre Fähigkeiten zum allgemeinen Wohl zu nutzen. Ebenso bedeutsam war es für die Bürger, dem guten „Geist des Rates und der Stärke“ folgend, den von den Spukgestalten ausgehenden, hemmenden, verwirrenden und aggressiven Impulsen kraftvoll zu widerstehen, oder ihre hilfreichen Warnungen bei Entscheidungen zu beachten. In schwierigen Lebenslagen und in Notsituationen habe ich stets als Geist der „Vernunft und Ideen“ allen königlichen Beamten und Bürgern Eurasiens beigestanden, Blockaden und Hemmungen zu überwinden, neue Wege zu erkunden und sie ermahnt, auf die eigenen Fähigkeiten und die Hilfsbereitschaft anderer Menschen zu vertrauen.

Der Zeremonienmeister unterbrach nun die Zeugenaussagen der guten Geister mit den Worten:  „Majestäten, Mitglieder des Kronrates, verehrte Anwesende, wir haben in den heutigen Beiträgen des Kronrates und der Zeugen erkannt, wie schwer wir uns alle manchmal im Alltag entscheiden. Zum Abschluss unserer heutigen Beratung stellt sich nun die Frage, auf was wir künftig bei der „Unterscheidung der Geister“ achten sollten?“

Der Hofprediger meldete sich zu Wort und sagte: „Alle königlichen Verwalter und Bürger sollten sich bewusst bleiben, dass nicht nur unser König und die Königin ihre Macht zur Regentschaft von Gottes  Gnaden  empfingen, sondern dass wir alle ebenso ermächtigt sind, mit unseren Fähigkeiten zur Sicherung von Frieden, Gerechtigkeit und Wohlstand in Eurasien beizutragen.  Ein königlicher Verwalter bemerkte: „In kostenfreier Bildung wurden unsere Bürger angeleitet, ihre eigene „Kritik- und Urteilsfähigkeit“ auszubilden. Es lag bisher auch an ihnen selbst, ihr Wissen zu erweitern und es obliegt ihnen auch künftig sich weiter zu bilden, um bei ihren Handlungen Recht Unrecht unterscheiden zu können.  Ein Philosoph meldete sich zu Wort und sagte: „Lüge und Wahrheit, die richtige und falsche Erkenntnis zu unterscheiden, Fortschritt und Tradition zu versöhnen und die Ordnung im Ganzen zu verstehen, war und bleibt ein lebenslange, sich stets verändernde Aufgabe. „Der Freiheit des Denkens diente das zweckfreie Gestalten und fantasievolle Spiel mit dem Schönen in der Welt. Die Entfaltung des künstlerischen, literarischen und musikalischen Schaffens sind daher auch künftig für uns alle von Bedeutung“, fügte ein Poet hinzu. Einen Pädagogen drängte es zur Aussage: „Gedankenschnell und weltverbunden mit anderen Menschen unsere Ideen und Anregungen austauschen zu können und in Freiheit kreative Probehandlungen ohne Schaden zu nehmen durchführen zu können, das war und bleibt ein wichtige Erkenntnis.“

Der Zeremonienmeister fügte hinzu: „Wir haben in unserer Beratung Spukgestalten und gute Geister unterschieden: Zu den „Spukgestalten“ zählten die Angst, Hemmung, der Verwirrer, Lügner und die Aggression. Bei deren Wirkung war zu beachten, ob sie uns bei den  Entscheidungen hindern, schaden, oder als Warnung dienen können.  Wir lernten davon unterschieden auch die Eingebungen guter Geister kennen: Die in den Herzen aller Menschen als Gewissen ermutigende „Liebe“, die daran erinnert, auf den rechten Wegen zu bleiben und sich oder anderen Personen keinen Schaden zuzufügen.  Wenn es galt, den Impulsen der Spukgestalten zu widerstehen und deren hemmenden, verwirrenden, ängstigenden und aggressiven Impulse kraftvoll abzuwehren, als Warnung zu erkennen, oder in Notlagen Blockaden zu überwinden, kreative Lösungen zu erkunden, auf die eigenen Fähigkeiten und Hilfe anderer Menschen zu vertrauen, konnten wir uns auf die Eingebungen des guten Geistes des „Rates und der Stärke“ verlassen.“ An dieser Stelle klopfte der Zeremonienmeister wieder drei Mal mit seinem Stab auf den Boden, gebot Ruhe und sagte: Wir erhielten von unseren Regenten den Auftrag, heute darüber zu beraten, einen Beitrag zur „Unterscheidung der Geister“ zu leisten. Wir haben die Wirkung von Spukgestalten und guten Geistern kennen gelernt und hoffen, den Bürgern Eurasiens dadurch geholfen zu haben, bei allen ihren Entscheidungen, schädliche Eingebungen durch Spukgestalten abwehren und der Ermutigung guter Geister folgen zu können.“ Ich gebe nun mein Amt zur Leitung der Beratung des Kronrates wieder an unseren König und die Königin zurück. Die Regenten erhoben sich von ihren Plätzen, verneigten sich vor dem Kronrat und sagten: „Wir haben uns bei unserem Auftrag, in Eurasien Frieden und Wohlstand für alle Bürger zu wahren, selten so gut verstanden gefühlt, wie in dieser Beratung. Zu wissen, dass nicht nur die Mitglieder des Kronrates, sondern alle Bürger Eurasiens mit uns die Macht und Sorge für unser Königreich teilen, hilft uns sehr, die Freiheit des Denkens und Handelns für uns alle in unserem Eurasien wie bisher aufrecht zu erhalten.“ Wir bitten nun unseren Hofprediger zum Abschluss dieser langen Beratung um den Abendsegen. Der Hofprediger begab sich würdevoll zum Lesepult, verneigte sich vor dem König, der Königin und dem Kronrat und betete feierlich: „Herr und Gott, wir danken Dir für alle guten Gaben und bitten um den Heiligen Geist, dass Er gnädig vollende, was wir heute bedachten. In dieser Hoffnung segne uns und alle Bürger Eurasiens der Vater, Sohn uns Heilige Geist.“
Wie Sie, liebe Leser, leicht erkennen konnten, waren im Fantasiereich Eurasien nicht nur die Gedanken frei, sondern es gab auch einige Unterschiede zu dem uns bekannten normalen Leben. Vielleicht könnte die eine oder andere fantastische Ausgestaltung des Märchens aber auch Ihnen bei Entscheidungen als Anregung zur „Unterscheidung der Geister“ dienen?

Der Fähnrich

Das Morgenrot begrüßt den Tod,
die Trommeln zwingen in den Schritt,
Trompeten locken ohne Not
Soldaten Reih um Reihe mit.

Tromm, tromm,
tromm, tromm tromm
Trrrrr – omm, trrrr – omm…….

Und graue, ungenannte Massen,
folgen aus Pflicht und Ehren
in Schritt und Tritt,
den Ruhm zu mehren.

Tromm, tromm
tromm, tromm, tromm……

Der Fähnrich, fast noch ein Kind,
hält das Banner in den Wind,
er geht voran,
sie folgen Mann für Mann.

Tromm, tromm,
tromm, tromm, tromm……….

Ein dumpfes Grollen und Verderben
aus tausend Rohren,
Schlag auf Schlag,
mischt sich in den jungen Tag.

Tromm, tromm,
tromm, tromm, tromm, ……….

Laut schmettert die Trompete,
Trommeln decken Ängste zu,
Sprung auf und ab;
in der zerpflügten Erde,
betten Leiber sich zur Ruh.

Tromm, tromm,
tromm, tromm, tromm……..

Ein Schuss, den Fähnrich trifft`s
und noch im Fallen
hält er das Banner,
zeigt es allen,
deckt`s in seiner letzten Ruh
mit dem eigenen Leibe zu.

Tromm, tromm,
tromm, tromm, tromm……….

Viele sehen ihn fallen
in umgewühlte Erde,
wer von allen
darf sein Erbe werden,
wer wird`s wagen,
wenn Trommeln schlagen?

Tromm, Tromm,
tromm, tromm, tromm………

Ein Vogel ist`s, er steigt empor,
zu singen und zu künden:
Fähnrich, Totentanz,Soldaten,
sollen nicht im Staub versinken

Tromm, tromm,
tromm, tromm, tromm
Trrrrr – omm, Trrrrr – omm…………

 

Diesen Beitrag gibt es auch als von mir gesprochenen Audiobeitrag unter Der Fähnrich – Audioversion.

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