Nachtgebet

 

Ich suche Dich an allen Orten

 

und greif Dich nicht

 

Nur in Bildern, hinter Worten

 

erahne ich Dein Licht

 

Bleib Du bei heil’gem Glockenklingen

 

im Frieden dieser Nacht

 

mein treuster Freund, der für uns wacht

 

Hinein in Deinen Tränenkrug

 

strömt mein Gebet:

 

Gott Du bist gut!

 

 

 

 

 

 

Gebet

 

 

 

Du armes Herze 

 

                                            

   sprich

 

 

       ja mein Gott

 

                                                  

     ich liebe Dich

 

Ein treuer Freund

Ein Ehepaar hatte sich mit einem Freund vereinbart. Er sagte zu seiner Frau: »Auf ihn können wir uns verlassen, Josef wird sicher pünktlich sein«. Sie zweifelte und meinte: » Er hat doch eine weite Reise vor sich. Bei dem lebhaften Verkehr auf den Straßen, muss man immer mit Staus rechnen«. Er blickte auf seine Uhr und sagte: „ Es sind noch zehn Minuten, bis zum vereinbarten Termin.“

In vielen Jahren gemeinsamer Tätigkeit in einer Firma, hatte er seinen Freund als einen tüchtigen, verlässlichen Menschen kennen und schätzen gelernt. Josef war ein bescheidener, lebensfroher und intelligenter Mensch, der sich nicht nur in seinem Beruf, sondern auch in vielen Belangen des täglichen Lebens zurecht fand: Er verstand es, sein Motorrad in Teile zu zerlegen und wieder zusammen zu bauen, ohne dass etwas übrig blieb. Sportlich vielseitig interessiert, gehörte er in seiner Altersgruppe als Marathonläufer, und in anderen Sportarten zu den Besten. Josef erledigte alle ihm übertragenen Aufgaben sehr gewissenhaft, liebte die klassische Musik, und interessierte sich für philosophische und ethische Themen. Er stand zu seiner christlich geprägten Weltanschauung, und ertrug mit Würde seine skurril anmutenden Sonderheiten:

Josef war ein überzeugter Vegetarier und trug aus Gründen der Pietät, auch aus der Mode gekommene Schuhe und Kleidungsstücke seines Onkels, der als Pädagoge an einem Gymnasium tätig war. Mit Frauen tat er sich schwer: Eines Tages kam es zwischen ihm und einer attraktiven Sekretärin zu einer lebhaften Auseinandersetzung. Josef versuchte sich ihr auf philosophischem Wege zu nähern, und brachte dadurch die Sekretärin, die nichts von Philosophie verstand, zur Weißglut. In Ihrem Zorn nahm sie ein viereckiges, an den Kanten metallverstärktes Lineal zur Hand, und schlug damit so hart auf den »Philosophen« ein, dass es in Stücke zerbrach. Josef wehrte sich nicht sonderlich, und schützte seinen Kopf nur notdürftig mit den Armen. Er verzichtete aber notgedrungen auf den von der Sekretärin nicht erwünschten philosophischen Dialog, und flüchtete im Rückwärtsgang aus deren Büro. Wie Josef dennoch eine lebenstüchtige, charmante Vegetarierin fand, und mit ihr zusammen in langjähriger Ehe einer Schar Kinder die Wege in deren Leben ebnete, grenzte an ein Wunder. An diesem Eheglück waren Josefs Kollegen nicht zufällig beteiligt, denn sie informierten ihn darüber, dass in der Nähe eine hübsche Apothekerin arbeite. Dies hatte zur Folge, dass er noch am selben Tage deren Dackel Gassi führte. Für alles, was sich daraus ergab, trugen aber Josef und seine attraktive Vegetarierin gern die volle Verantwortung

Viele Jahre hatte der Mann seinen Freund nicht mehr gesehen. Nun ergab sich aber ein Anlass, ihn zu einem Besuch einzuladen, denn. das Ehepaar trug sich mit dem Gedanken, ein älteres Haus zu kaufen. Das Objekt sollte von einem Fachmann besichtigt, auf versteckte Mängel untersucht, und die Kosten für deren Beseitigung eingeschätzt werden, Der Ehemann erinnerte sich an seinen Freund, der als erfahrener Bauingenieur zu dieser Aufgabe geeignet schien, besprach sich mit seiner Frau, und bat ihn um die Begutachtung des Hauses. Josef sagte zu; und wenn er einmal zusagte, galt sein Wort. Da fuhr auch schon, fünf Minuten vor der vereinbarten Zeit, ein Auto vor, und er stieg aus. Obwohl Josef wie früher schlank und athletisch geblieben war, hatten die Jahre doch Spuren in seinem Äußern hinterlassen. Die Freunde begrüßten sich freundlich. Der Ehemann stellte ihm seine Frau vor und sagte: »Josef, treibst Du immer noch so viel Sport wie früher? « Er antwortete: »Eigentlich nicht. Ich habe in den letzten Jahren nur noch an Marathonläufen in meiner Altersgruppe teilgenommen, um mich fit zu halten.

Sie besichtigten zusammen das Haus, und hatten es Josef zu verdanken, sich nicht auf den Kauf, bei einem erheblichen finanziellen Aufwand wegen des notwendigen Umbaus, eingelassen zu haben. Der Freund nahm gern die Einladung zu einem Gespräch in der Wohnung des Ehepaares an. Josef lehnte aber mit einer freundlichen Geste die angebotene schwäbische Spezialität „Käsespätzle mit Salat“ ab, und bat an dessen Stelle nur um trockenes Brot. Genüsslich kauend versicherte er den Gastgebern, wie gut es ihm schmecke. Ja, Josef war in mancher Hinsicht ein „Sonderling“, aber ein äußerst liebenswerter, und ein treuer Freund.,

Herbststimmung

 

Sie taumeln herunter wie aus vergangener Zeit und liegen zuhauf. Mutter Erde breitet weit die Arme aus, hält und sammelt alle. Da liegen sie. Kein Windhauch wirbelt die Blätter auf. Für eine kleine Weile scheint für sie hier auf Erden die Zeit still zu stehen. In herbstlich leuchtenden Farben bedecken die Welkenden den spärlich vorhandenen Rasen, als wollten sie ihn mit einem Mantel aufgestauter Sommerwärme vor den anstehenden kalten, und regnerischen Tagen schützen.

Es sind dieselben Blätter, die vom Frühjahr an, still und leise, wie es ihre Art ist, die Büsche und Bäume bekleideten, und uns mit ihrem Spiel in Sonne und Wind erfreuten. Mit ihnen sind auch wir unmerklich und unaufhaltsam durch die Sanduhr unserer Zeit geglitten. Wehmut und Trauer berühren unser Herz, wenn wir es zulassen, dass  wir alle, wie die uns umgebenden Natur, auch in den Kreislauf des Werdens und Vergehens eingebettet sind.

Selbst wenn wir sicher wissen, dass sich unsere Bäume und Büsche nach Herbst und Winter, in jedem Frühling  wieder in einem schmucken, grünen Blätterkleid vorstellen werden, bleibt es auch dem “homo sapiens”  nicht erspart, dereinst wie alles in der Natur zu enden. Vor Zeiten benannten bereits die Griechen dieses unausweichliche Geschehen als “Chronos”, um daran zu erinnern, dass alles fließt und vergänglich sei. Rilke verwies in einem seiner Gedichte im Bilde der herbstlich fallenden Blätter auch auf das eherne Gesetz der Zeit, aber ebenso hoffend, dass „Einer“ sei, der sie einmal unendlich sanft in seinen Händen auffange.

 

Die Kapelle

Wir sind unterwegs: Die Luft ist diesig und steht an diesem heißen Sommertag flimmernd über dem steinigen Weg, der zu einem kleinen Waldstück in der Nähe führt. Meine Frau und deren Schwester gehen in angeregtem Gespräch voraus. Ich bleibe mit beiden Kindern immer mehr zurück. Wir können das Tempo der Frauen nicht halten. Die Trippelschritte der Kleinen geben nicht mehr her. Auch mir ist nach einer bedächtigeren Gangart. Die Kinder stimmen bereitwillig zu, als ich ihnen, der brütenden Hitze wegen, eine Ruhepause vorschlage. Wir setzen uns an den Wegrand, lassen die „Großen“ ziehen. Bunte Steine unterschiedlicher Größen, körniger, durch die Einflüsse der Witterung aus dem Fels gebröselter Sand, da und dort ein trockenes Holzstück, möchten mit uns spielen. Im Handumdrehen verzaubern die Kinder den gewöhnlichen Fahrweg in eine Spielwiese. Ihr emsiges Treiben, das ich anerkennend beobachte, drängt mich, mit zu werkeln. Wie absichtslos beginnen meine Finger Figuren in den lockeren Sand zu malen.

Doch plötzlich verändert sich überraschend die sorglose Heiterkeit des Sommertages. Als ob ich blind und schwerhörig geworden wäre, erscheint das Spiel der Kinder und die Natur wie hinter einem Vorhang zunehmend unerklärlich fremd und unnahbar. Eine unerwartet ängstliche Stimmung, kündigt sich in einer Spannung im ganzen Körper an. Das Herz pocht bis zum Halse. Ähnliches hatte ich bisher nur einmal mit 40 Jahren auf einem Spaziergang um den Schluchsee im Schwarzwald erlebt. Dabei wurde mir unabweisbar klar, dass aller Menschen Leben und auch meines endlich sei. Einer Eingebung folgend, stellte ich mich damals in die lange Reihe meiner Vorfahren. Bauern, die ihre Felder bestellten, die Ernte einfuhren, Familien gründeten und sich nach einem arbeitsamen Leben ins Unausweichliche schickten. Die Vorstellung, mit ihnen im gleichen Boot bleiben zu wollen, war tröstlich, wie ein Händedruck unter Freunden.

Meine Kinder indes, vergnügen sich derweil unbekümmert und arglos neben mir im Sand. Ihr emsiges Spiel, scheint sie abzuschirmen. Es ist nicht zu erkennen, dass sie meine momentane Unsicherheit, Angst und Trauer bemerken. Die Stimmen der Frauen verlieren sich in der Ferne und dringen nur noch als unverständliche Wortfetzen an mein Ohr. Auch die Vögel haben sich in den schattigen Wald verkrochen. Ihre matten Stimmen sind fast nicht mehr zu hören. Nur einige Schmetterlinge strahlen den Kindern gleich, Lebensfreude aus. Unermüdlich tanzen sie in der leichten Brise auf und ab und flattern um uns herum. Doch, was ist denn das?

Plötzlich höre ich mitten in meiner unerklärlichen Notlage, von weit her Gesang. Es sind Melodien, wie aus einer anderen Welt, die ich schon lange nicht mehr hörte. Alte, vertraute „Marienlieder“. Sie dringen aber jetzt nicht nur an mein äußeres Ohr. In der momentanen Verstimmung öffnen sie eine innere Tür, die mir ein tröstendes Hören ermöglicht. Ich unterbreche spontan mein Spiel im Sand, richte mich auf und wittere, wie ein waches Wild, in Richtung des Gesanges. Woher konnten in dieser einsamen Gegend Melodien kommen? Unter einem unwiderstehlichen Drang, nehme ich meine beiden Kinder an der Hand und folge dem Klang der Lieder. Sie führen uns den Weg zurück, bis wir am Horizont die Umrisse einer kleinen Kapelle entdecken, an der wir zuvor achtlos vorbei gegangen waren. Eine der kleinen Wegkapellen, die im Schwarzwald öfters anzutreffen sind. Steine und Holz aus der Umgebung bilden das Baumaterial. Außen mit grobem Putz versehen, der Innenraum meist schlicht gestaltet. Einfache, zur Andacht ladende Bänke, ein Kreuz mit Marienbild und ein Strauß frischer Feldblumen auf dem kleinen Altar, bilden die Ausstattung. Schwarzwälder Bauern haben hier Hand angelegt, das ist aus allen Details zu spüren.

In immer schnelleren Schritten kommen wir der Kapelle endlich nahe. Es besteht kein Zweifel. Aus diesem schlichten Andachtsraum erklingen die frommen Lieder. Unsichtbare Fäden ziehen mich mit den Kindern in die Kapelle hinein. Leise, um die Sänger nicht zu stören, öffnen wir die Türe und nehmen auf den rohen Bänken Platz. Vater, Mutter und Kinder, „Wanderer wie wir“, sitzen dort und singen aus vollem Herzen: „Maria breit den Mantel aus…, Segne mich Maria…“ und andere Lieder, die mir seit Kindertagen im Ohr liegen. Ich sitze mit meinen Kindern da und lausche ergriffen. Es verschlägt mir die Stimme. Ich kann nicht mitsingen, bin einfach nur da, betroffen und getroffen. Die Nähe zur Gottesmutter, vielleicht zu allem Mütterlichen, wird in diesem Raum spürbar. Die Lieder von Sehnsucht, Wehmut und Geborgenheit, wirken wie eine Antwort auf meine augenblickliche Sprachlosigkeit.

Seit Jahren hatte ich nicht mehr geweint. Nun flossen die Tränen. Wie aus einer reinen Quelle perlten sie die Wangen hinab. Schweigend, ohne die geringste Scham, ließ ich es geschehen. Die Tränen drückten ja weniger Schmerz, eher Freude und Glück aus. Ein in den Wirren des Lebens geschüttelter, verhärteter Mann, hatte in einer schlichten Kapelle, in frommen Liedern einer „Wanderfamilie“ geborgen, Trost erfahren und zu lassen können. Bis auf den heutigen Tag fühle ich mich bestärkt und getröstet, wenn ich mich an diese Kapelle im Schwarzwald erinnere. Es scheint zu stimmen: „Marienkinder gehen nicht verloren!“ Die kleine Kapelle im Schwarzwald möge mir verzeihen, dass ich sie einmal übersehen habe.

Der Küfermeister

Er hatte auffallend starke, kräftige Hände. Hände, die zupacken konnten. Die Finger wirkten etwas schwulstig, die Nägel waren nie auf Hochglanz poliert. Die schwere Arbeit hatte Schrunden hinterlassen. Wie viele Fässer mochte er als Küfermeister gefertigt und beschlagen haben? Auch wenn er von der Arbeit in einer Brauerei in der Schweiz zurückkehrte, fand er keine Ruhe. Unser Nachbar, ein bereits in die Jahre gekommener Vorrentner, erschien uns Kinder wie ein Riese, muskulös und von kräftiger Statur. Er flößte uns, wenn wir zu ihm aufschauten, allein schon durch seine Erscheinung mächtigen Respekt ein. Vater Hunsinger gehörte, ohne dass wir viel mit dem wortkargen Küfermeister redeten, in unseren jugendlichen Erfahrungsbereich. Nach getaner Arbeit widmete er sich ohne Pause unermüdlich seinem reichlich bestückten, großen Gemüsegarten. Dies war in den damaligen Kriegsjahren in der Stadt vonnöten. Unsere Mutter bekam gelegentlich von diesem Überfluss einen Korb mit Salat, Gurken Kraut oder anderem Gemüse ab.

Wir Kinder konnten in der Nähe von Vater Hunsinger ungestört spielen. Dieser stattliche, fleißige Mann war das krasse Gegenstück zu einer eher zänkischen Frau in unserer Straße, die sich über die Unruhe, die wir verbreiteten, stets beschwerte. Er war einer der wenigen Männer, die altersbedingt nicht zum Kriegsdienst eingezogen wurden. Ich hatte Vertrauen zu ihm und beobachtete ihn gern und oft durch den Zaun bei seiner Gartenarbeit. Er wirkte immer etwas ernst. Seine von reichlichem Alkoholgenuss rötliche Gesichtshaut mit der schon ins Violette changierenden, porösen, kräftigen Nase, und der von Falten zerfurchten Stirn, passten recht gut in das ovale Gesicht mit den lebhaften, gütigen Augen; ein Nikolaus-Gesicht, ohne Bart.

Wenn Vater Hunsinger sich mit seinen Rosen beschäftigte, die seine große Gartenanlage umsäumten, gewann er eine besondere Liebenswürdigkeit. Ich staunte immer, wie diese übergroßen Hände beim Schneiden und Pflegen der Rosen eine Zärtlichkeit entwickeln konnten, die ich ihnen nie zugetraut hätte. Seinen Lieblingen erwies er alle nur erdenkliche Pflege, als habe er sich verpflichtet, die Pracht und Schönheit jeder einzelnen Rose möglichst lange zu erhalten. Wenn eine Blüte ihre Blätter verlor, schien es „dem Rosen-Vater“, so nannten wir ihn, körperliches Unbehagen zu bereiten. Wir Kinder achteten diese Behutsamkeit sehr und waren nach Kräften bemüht, seinen Rosen bei unserem lebhaften Spielen nicht zu nahe zu kommen.

Es ließ sich aber nicht vermeiden, dass jedes Jahr zu Fronleichnam viele Rosen benötigt wurden. Den Mädchen fiel die Aufgabe zu, den Prozessionsweg vor dem „Allerheiligsten“ mit frischen Blumenblättern zu bestreuen. Vater Hunsinger musste bei dem Gedanken, dass wieder ein Ansturm auf seine Rosen drohe, sicher schlecht geschlafen haben. Der Konflikt, den bittenden Mädchen die Körbe zu füllen und seinen Rosen kein Leid anzutun, stand ihm ins Gesicht geschrieben, wenn er sorgfältig nur die Rosen auswählte, die kurz davor standen, ihre Pracht zu verlieren. Wie konnte ein solcher Riese, den Tränen nahe unter den Geschenken leiden, die ihm die munteren Mädchen abtrotzten? Ich tröstete mich bei dem Gedanken, dass dem Rosen-Vater ja noch viele Lieblinge übrig blieben.

Eines Tages, es war ein heißer Hochsommertag, bat mich Vater Hunsinger, ihm zu helfen. Er betreute in den Kriegsjahren in einem Gasthaus die Weinfässer. Diese mussten von Innen gesäubert werden. Das Spannende für mich war, dass er geheimnisvoll ankündigte: Ich sei mit meiner schlanken Gestalt sehr gut geeignet, durch ein Spundloch der Fässer zu schlüpfen, um die Reinigung vorzunehmen. Es war mir zwar mehr als mulmig zumute, bei einem solchen Unternehmen mitzuwirken. Er sprach aber betont meinen Mut an und dass er mir das durchaus zutraue. So bei meinem jungenhaften Stolz gepackt, entschloss ich mich, nachdem meine Mutter keinen Widerspruch einlegte, dieses Abenteuer anzugehen.

Wir zogen los Richtung Sängerhalle, so hieß das besagte Lokal. Dort wurden wir von der Wirtin freundlich empfangen und zum Weinkeller geleitet. Es ging einige Stufen auf einer Holztreppe hinunter in einen nur spärlich beleuchteten, eher dunklen Raum. Auf Holzgestellen aufgebockt, befanden sich recht große Weinfässer. Nie zuvor hatte ich so etwas gesehen. Nun näherten wir uns einem Fass. Das Spundloch war offen aber nicht sehr groß. Vater Hunsinger befestigte an meinem Hemd eine Taschenlampe und übergab mir eine an einem längeren Stiel befestigte Bürste. Seine Anweisungen waren kurz und bündig: „Ich solle mit den Händen über dem Kopf durch die Öffnung in das Fass schlüpfen“. Soll ich wirklich schlüpfen oder in letzter Minute kneifen? Ich schluckte meine aufsteigende Angst hinunter, nahm meinen restlichen Mut zusammen und zwängte mich durch das enge Spundloch. In einem Fass war ich zuvor noch nie gewesen. Werde ich da auch wieder lebend herauskommen? Da unterbrachen energische Anweisungen des Küfermeisters meine Betrachtungen: Ich solle jetzt gefälligst mit der Reinigung des Fasses beginnen! Er kontrolliere meine Arbeit durch das Spundloch und helfe mir gegebenenfalls mit entsprechenden Hinweisen. Ich brauchte sie nicht. Mir fiel aber ein Stein vom Herzen, als ich das erste Fass wieder wohlbehalten verlassen konnte.

Vater Hunsinger hatte inzwischen fachmännisch ein anderes Weinfass angehoben, aus dem er noch alten Wein abzapfen konnte. Zum Dank für die von mir geleistete Arbeit, bot er mir ein mit Wein gefülltes Probiergläschen an. Ich wurde den Verdacht nicht los, dass er selbst inzwischen mehr als ein Gläschen getrunken hatte. Es waren einige Fässer, die ich unter der Obhut des Küfermeisters reinigte. Ich schlüpfte zunehmend angstfreier und geschmeidiger in die Fässer. Ob das an der Belohnung mit einem Gläschen Wein nach jeder Reinigung zu tun hatte, kann ich nicht mehr genau erinnern.

Nach einiger Zeit meldete sich die Wirtin mit der Bemerkung, sie habe in der Küche ein Vesper für uns zubereitet und, nachdem sie mich und Vater Hunsinger in Augenschein genommen hatte, mit dem Zusatz, „getrunken hätten wir wohl schon!“ Ich konnte kaum ein Kichern verkneifen, als der Küfermeister mit tot ernster Stimme versicherte, wir hätten keinen Schluck getrunken. Nun ging es seltsam beschwerlich die Treppe hinauf in die Küche. Der Gegensatz zwischen dem dunklen Weinkeller und der von einem Deckenfenster taghell beleuchteten Küche hätte nicht größer sein können. Die Wirtin frug uns, was wir zu der Mahlzeit trinken möchten. Vater Hunsinger bestand unnachgiebig darauf, dass es wenigsten ein gutes Schnäpschen sein solle. Ich konnte nur mit größter Anstrengung das Lachen unterdrücken. Eine solche Fähigkeit zu lügen, hätte ich dem von mir verehrten Küfermeister nie zugetraut. Mit Dank entließ uns die Wirtin, nachdem wir gegessen hatten.

Es war äußerst befremdlich und ungewohnt, als wir beide, auf unsicheren Beinen, im gleißenden Licht des Sommertages Arm in Arm nach Hause wankten. Meine Mutter erfasste schlagartig die Situation. Es waren keine Lobeshymnen, die ich zu hören bekam. „ Ab mit Dir ins Bett, herrschte sie mich an!“ und danach war mir auch. Ich fiel in einen traumlosen Schlaf aus dem ich nach Stunden erwachte, ohne irgendwie Schaden genommen zu haben. Ganz im Gegenteil. Der alte Wein in einen keuschen Jungenmagen aufgenommen, hatte ein ausgesprochenes Wohlbefinden bewirkt. Diese gemeinsame Erfahrung „zweier Männer“ führte dazu, dass meine Freundschaft zu unserem Nachbarn, dem Rosen-Vater und Nachbarn, Rosenvater, Küfermeister, bis auf den heutigen Tag erhalten blieb.

 

 

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