Vier Türme

Wir befinden uns auf einer Pilgerreise zum Kloster Münster Schwarzach. Einige Frauen und Männer folgen der Einladung unseres Pfarrers. Die vereinbarte Anreise mit eigenen Fahrzeugen, gestattet uns, den Komfort unseres neuen Golfs zu genießen. Wie üblich steuert meine Frau. Ich mache es mir daneben bequem, beobachte die Landschaft, und überlasse mich dem munteren Spiel meiner Gedanken und Gefühle: Wir fahren schon eine Weile südlich an Würzburg vorbei, Richtung Bamberg. Den momentan auftauchenden Erinnerungen an eine frühere Irrfahrt ohne Navigationsgerät auf den Straßen dieser Stadt, folgen aber bald wieder positivere Gedanken und Gefühle. Unser neues Auto federt die Unebenheiten der Straße deutlich besser ab, als sein Vorgänger. Durch innere und äußere Bilder hindurch, umkreisen meine Gedanken das Ziel unserer Reise, und die damit verbundenen Erwartungen: In Kürze werden wir die Frauen und Männer der anderen Fahrgemeinschaften treffen. Ich kenne das Kloster bereits seit einem früheren Besuch. Leider musste ich damals den Urlaub vorzeitig beenden. Mein empfindlicher Rücken, und die klösterlich harte Matratze des Bettes, passten nicht zusammen. Ich sende daher vorsorglich ein Stoßgebet zum Himmel, dass sich so etwas nicht wiederholen möge. Vor uns sind schon die vier markanten Türme der Klosteranlage zu sehen. Zeitgleich mit uns erreicht auch unser Pfarrer und die anderen Pilger das Kloster. Nach einer kurzen, herzlichen Begrüßung, begeben wir uns ins Gästehaus. Wir beziehen ein freundlich eingerichtetes Doppelzimmer in ruhiger Lage. Mein Stoßgebet um ein weiches Lager fand Gehör, sodass keine vorzeitige Abreise wie beim letzten Aufenthalt hier droht. Nach einer kurzen Erfrischung, begeben wir uns zu der nur wenige Schritte entfernten Klosterkirche, um mit den Mönchen zusammen den Vesper-Gottesdienst zu feiern. Eine weit ausladende Freitreppe führt zum Eingang des Gotteshauses. Wie schon oft bei anderen Gelegenheiten, stehe ich aufblickend, klein und sprachlos, vor der beeindruckenden Fassade dieser Kirche. Ich staune immer wieder über das, was Menschen vermögen, wenn sie, ihrem Glauben zu Gottes Ehre eine äußere Form geben. Rilkes Verse »Werkleute sind wir, Jünger, Knappen Meister…«, kommen mir in den Sinn. Das Staunen schlägt in Bewunderung um, als wir erfahren, dass die Mönche dieses Gotteshaus zusammen mit Hilfskräften selbst erstellten, und die zum Bau benötigten Steine selbst gebrochen, behauen, und von weit her auf Karren zur Baustelle gefahren haben. Wir treten ein in die Stille des Kirchenraumes, der in seiner sparsamen Ausgestaltung an romanische Kirchen erinnernd, zur Andacht einlädt. Die Seitenaltäre mit den Heiligenfiguren lassen diverse Baustile erkennen und stammen aus einer Zeit, in der noch jeder Priester-Mönch täglich die Heilige Messe feierte. Die Form des Kirchenschiffes lenkt den Blick zum Chor mit dem Hochaltar, um den sich die Mönche zum Gebet versammeln. Christus ist als gekreuzigter und auferstandener Herr, mit vergoldeten Wundmalen, von einem hellen Licht angestrahlt, der zentrale Punkt der Kirche. Im Tabernakel des linken Seitenaltars, der den brennenden Dornbusch darstellt, wird das Allerheiligste aufbewahrt. Dort knien oft Mönche, tief ins Gebet versunken. Schweigen verbreitend, lädt dieser Raum die Besucher ein, mit ihnen im Gebet Gott Ehre zu erweisen.

Es ist immer erhebend, wenn die Mönche gemessenen Schrittes hinter ihrem Abt in feierlicher Prozession in die Kirche einziehen. Vor dem Hochaltar mit dem Kreuz Christi verneigen sie sich tief, um dann ihre Plätze im Chorgestühl einzunehmen. Die betenden Benediktiner erinnern mich in ihrer auf Gott zentrierten Haltung an den Geist, der auch in unserer Heimschule in Sasbach herrschte. Dort glänzt bis heute in goldenen Lettern über dem Eingang der Leitspruch einer betenden Schule: „INITIUM SAPIENTIAE TIMOR DOMINI“ Der Gesang der Mönche steigt auf und füllt den Raum. Alles, was in uns singen und beten kann, klingt mit. Der Lobpreis der Mönche schließt ja alle Menschen, die Kirche und die ganze Schöpfung ein. Wir lassen uns behutsam auf ihren Lebensrhythmus des „ora et labora“ ein. Während ich jetzt über sie und ihren so wichtigen Dienst schreibe, begleitet mich ihr Chorgesang. Eine ganze Weile dauerte es aber, bis wir bei unserem Besuch im Kloster, aus dem andächtigen Staunen erwachten und es wagten, zunächst zaghaft, und dann nach und nach etwas kräftiger in den Chorgesang der Mönche einzustimmen. Es war erhebend und zum Greifen nahe, wie sehr die Mönche ihr Leben auf Jesus Christus, unseren Herrn und Meister, ausrichten. Zu erleben wie sie, vor unseren Augen, nach der Regel des Heiligen Benedikt, vor allem anderen Gott in feierlicher Form die Ehre erwiesen.

Wir genießen bei den Mahlzeiten, die uns reichlich vorgesetzten Speisen und die aufmerksame Bedienung der Mönche in ihren weißen Schürzen. Die traditionelle Gastfreundschaft der Benediktiner, ist hier zu spüren. Bei Tisch und in Gesprächen lernen wir die anderen Pilger, Frauen und Männer, jüngere und ältere Menschen, näher kennen. Zu meiner Freude bemerke ich, dass auch einige evangelische Christen mit uns zusammen im Kloster sind. Nach der Komplet sprechen wir, zum Ausklang des Tages, noch ein wenig über unsere heutigen Erfahrungen miteinander. Nach einer ruhigen Nacht, sind wir in einem Halbrund um den Altar in der Krypta versammelt. Der Blick wird immer wieder auf den voll ausgeleuchteten Reliquienschrein unter dem Altar gelenkt. Ein Priester betritt in violettem Messgewand der Fastenzeit die Krypta. Obwohl er mit seinen gewellten, langen, grau-weißen Haaren, ein wenig an einen Künstler erinnert, und durch seine feste Stimme und die überzeugenden Gesten, die Reife eines starken Charakters erahnen lässt, tritt er ganz hinter seine Aufgabe zurück und lässt uns spüren, für wen er im Glauben dasteht. Deo gratias! Die Demut und dienende Haltung des Priesters wird besonders deutlich beim Hochgebet und der Konsekration. Wenn er dabei die Hostie und den Kelch weit über sich hinaus empor hebt, ist er wie nicht mehr da, um dadurch um so mehr auf den gegenwärtigen Herrn zu verweisen. Tief berührt, bete ich leise die Einsetzungsworte mit. Und heute, frage ich mich betroffen, warum können in unseren Tagen so wenige Menschen den Glauben feiern und auf diese Weise, die überwältigende Barmherzigkeit und Liebe Christi erleben? Wenn ich das auch nicht ändern kann, dann aber bete und bitte ich um so leidenschaftlicher, dass uns Gott der Herr seiner Liebe wegen, fromme, treue Priester und gläubige Menschen schenken möge, und dass ER sich unserer vielen, nach Liebe und Barmherzigkeit hungernden Schwestern und Brüder annehme. Schweigend und tief bewegt, verlasse ich zusammen mit meiner Frau und den anderen Gläubigen, den Ort, an dem ich wieder einmal über jedes Gezänk erhaben, die Kraft und Schönheit unseres katholischen Glaubens und die offenen Arme der weltweiten, armen und zugleich reichen Katholischen Kirche, erfahren durften.

In einem geistlichen Impuls bezeugte uns anschließend ein Pater seinen Weg zu den Benediktinern, erklärte uns den Aufbau und die Struktur der Klosteranlage, und den nach festen Regeln ablaufenden Rhythmus von Gebet und Arbeit der Mönche. Es wurde uns klar, dass, ohne eine an Jesus Christus orientierte Frömmigkeit und ohne echte Berufung durch den Herrn, ein so streng geregeltes, den Gehorsam einforderndes Leben, nicht gelingen kann. Bei einer nachfolgenden Führung durch die Klosteranlage erhalten wir Informationen über den Bau und die künstlerische Ausgestaltung der Kirche, die Aufgaben der Mönche und Brüder in der Schule, dem Rekollektiohaus, der Missionsarbeit und in den Wirtschaftsbereichen: Die Bemühungen des Klosters im Bereich erneuerbarer Energien sind weithin bekannt, und gelten als fortschrittlich. Über eine Biogas- und Holzverbrennungsanlage etc. versorgen sich die Benediktiner selbst und können darüber hinaus noch Energie ins öffentliche Netz abgeben. Die Zeichen der Zeit gehen aber auch an den Benediktinern nicht spurlos vorüber. Denn allein auf sich gestellt, ohne die vielen Hilfskräfte, wären sie weder heute noch in Zukunft in der Lage, alle anstehenden Aufgaben zu bewältigen. Eine schmerzliche Feststellung, die wir mit den Benediktinern von Münster Schwarzach teilen, in der Hoffnung, dass der Herr auch unser Gebet erhöre und uns diese ihm geweihte Stätte des »ora et labora«  gnädig erhalten möge.

Gleichsam als Höhepunkt des Aufenthaltes in Münster- Schwarzach nehmen wir am sonntäglichen Konventsamt teil. Ein wenig Unruhe schaffte es, bis alle Gäste, die Wert darauflegten, bei den Mönchen im Chorgestühl mit zu beten und zu singen, dort ihren Platz gefunden hatten. Ich legte es nicht darauf an. In meiner Vorstellung gehört denen das Chorgestühl, die dort dem Herrn täglich dienen. Aber es scheint, dass sich die Zeiten und Ansichten hierzu ändern. Das hinderte mich, meine Frau und einige andere Beter aber nicht, mit den Benediktinern zusammen in den uns vertrauten Kirchenbänken die Eucharistie andächtig mit zu feiern und Gott frohen Herzens zu loben und zu preisen. Die Geschichte vom segensreichen Aufenthalt bei den Benediktinern in Münster Schwarzach läuft eigentlich auf die Frage hinaus, was in uns nachklingt und was wir davon weitergeben können: Viele Kreuzungen und Abzweigungen erschweren gelegentlich im Alltag die Orientierung. Dann ist guter Rat teuer. Wir brauchen dann dringend eine Wegweisung, einen liebevollen Navigator, der uns hilft, damit wir unsere von Gott geschaffenen schönen Wohnungen in der Katholischen Kirche nicht aus den Augen verlieren und einfach links liegen lassen. Die Mönche in Münster Schwarzach zeigen uns mit ihrem „ora et labora“ die Richtung an und ermutigen uns durch ihr Vorbild. Sie haben ja nicht nur Steine herangeschleppt, um ihre Kirche zu bauen, sondern sich selbst als lebendige Bausteine unter der Navigation des dreifaltigen Gottes so führen lassen, dass der Herr SEIN wahres, geistiges Gotteshaus aus Menschen mit brennenden Herzen auf erbauen kann. Eine glaubende Gemeinschaft liebender Zeugen. Ein lebendiges Haus Gottes, in dem der Herr selbst wohnen und wirken will. Danach verlangt Herz und Sinn.

 

 

Das Kreuzzeichen

Heute möchte ich Sie, liebe Leser, einladen mit mir zusammen das Kreuzzeichen zu betrachten, eines der wichtigsten und bekanntesten Symbole unseres Glaubens: Ein kleines Gefäß mit Weihwasser gehört mit zu meinen frühen kindlichen Erfahrungen. Unsere Großmutter ließ es sich nicht nehmen, ihre Finger ins geweihte Wasser zu tauchen, um mich zur Nacht im Namen des Vaters, des Sohnes und Heiligen Geistes zu segnen. Es war mir in diesen Momenten immer ein wenig feierlich zu Mute. Im Schutze dieser liebevollen Geste ließ es sich ruhig schlafen. Das aus Lindenholz in Gestalt eines Weinstocks von meinem Großvater selbst geschnitztes Kreuz, das im Wohnzimmer hing, gehörte ebenso zur vertrauten kindlichen Umgebung. Ich konnte es kaum erwarten, bis ich später, wie die Erwachsenen, beim Betreten und Verlassen der Kirche, selbst meine Finger ins Weihwasserbecken tauchen und mich bekreuzigen konnte. Ein Leben lang begleitet uns Christen das Kreuzzeichen. Ist das nicht Grund genug, über dieses Geschenk wieder einmal nach zu denken und uns zu fragen, was sich ereignet, wenn wir uns bekreuzigen, den Segen empfangen oder einander spenden. Der Frage nach zu gehen, was uns, das Kreuzzeichen von der Geburt bis zum Tod und darüber hinaus bedeutet, wenn wir von dessen Segen überwältigt verstummen, oder im Namen der Heiligsten Dreifaltigkeit reden, beten und handeln?

Ein heiliger Schauer kann uns befallen, wenn wir von diesem Zeichen berührt, aus unseren Träumen wachgerüttelt bemerken, dass uns Gott hinein liebt in SEIN Herz und braucht, um an SEINER Stelle in anderen Menschen Hoffnung und Segen zu wecken. Dass wir IHM mit allen Geschöpfen gehörend, ein Zeichen SEINER Gegenwart in unserer Zeit sein sollen. Vielleicht meint es Gott in SEINER zarten Liebe, Sorge und unendlichen Geduld mit uns allen sogar gut, wenn ER SEINE alles überragende Majestät vor uns verbirgt, und uns schwache Menschen benutzt, in den Spielwiesen des Alltags, anderen unseren Glauben so zu bezeugen, dass sie sich vor uns und dem Herrn nicht zu sehr erschrecken müssen. Denn auch wir dürfen fest darauf vertrauen, dass der Herr die Schwächen und Nöte Seiner Zeugen kennt, und auch durch unsere kleinen Gesten das Wunder wahrer Gottesbegegnung bewirken kann. Die Begegnung mit der überwältigenden Fülle der Liebe des dreifaltigen Herrn könnte uns Kleingläubige jedoch sehr erschrecken, und uns an Petrus erinnern, der beim Hahnenschrei seinen Verrat erkennend, bitterlich weinen musste. Das kraftvolle Kreuzzeichen der Liebe Gottes kann aber auch unsere Alltagsgewohnheiten und Schuld durchkreuzen, und Verborgenes, Chaotisches in uns und ums uns aufdecken. Es kann uns auch zur Erkenntnis führen, wie unsagbar arm und angewiesen wir sind, die barmherzige Nähe Gottes im schlichten Kreuzzeichen immer wieder zu erfahren. Von Geburt bis in den Tod und in die Auferstehung hinein, ist unser Kreuzzeichen ein Ausdruck dafür, dass Gott nie aufhört Chaos in Kosmos zu wandeln. Wer, wenn nicht die Heiligste Dreifaltigkeit weiß, was für uns alle wirklich umfassend gut ist. Gottes Fürsorge für das, was er in SEINER unendlichen Güte und Liebe geschaffen hat und allezeit am Leben erhält, ist wahrlich schon des Dankes wert. Unsere Heiligen sind auf ihre je eigene Weise, wie der Heilige Franziskus, mein Namenspatron, Zeugen der erlösenden Liebe Gottes. Wie nahe durfte dieser Heilige dem dreifaltigen Herrn kommen. Ein Beichtspiegel auch für uns: Sind wir so still, demütig, aufmerksam und offen, dass der die ganze Schöpfung durchwaltende Segen und die göttliche Liebe auch uns erfüllen, und durch unsere Armut hindurch, zu einem wirksamen Zeichen der Liebe werden kann? Hängen wir daher, zu Ehren Gottes, die Kreuze an der Wand und in unserem Leben nie ab, und bleiben wir allzeit gesegnet im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.

Der Herr ist für uns gestorben und vom Tod auferstanden-

Bratäpfel

Sie sitzt am Steuer ihres Autos. Ihre Freundin nimmt neben ihr Platz und räkelt sich auf dem Sitz bequem zurecht. Der Wagen ist, wie eine gute Stube im Winter, angenehm beheizt. Anne genießt es in dieser Nacht, Beifahrerin zu sein, sich ihren Gedanken zu überlassen und bemerkt: »Bald ist es so weit. Ich freue mich jetzt schon auf die besinnlichen Abende im Advent. Die Bratäpfel, die uns bei der Gastgeberin erwarten, sind besonders lecker. Sie schmoren sicher schon in der Röhre. Wenn ich an den feinen Duft denke, der durch die ganze Wohnung zieht, läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Und danach eine Runde Bridge mit unseren Freunden. Mein Herz, was brauchst du mehr! Ein solches Ereignis hebt die Laune, hellt alle Dunkelheit auf und lässt uns, die in diesem Jahr schon früh einsetzenden kälteren Tage leichter ertragen«. Traudel, ihre Freundin, entgegnet: »Ich freue mich auch auf die Bratäpfel, aber weniger auf den harten Winter, mit all seinen Unbilden. Soeben berichtete mir mein Mann, der von einem Treffen mit seinen Musikfreunden zurückkam, wie schwierig es für ihn war, bei lebhaftem Verkehr mit dem Auto im Dunkeln zu fahren. Die Nebenstraßen seien bei leichtem Nieselregen spiegelglatt«. Ihre Freundin Anne, sitzt derweil, wie ungerührt daneben. Sie kuschelt sich in den Beifahrersitz. Ab und zu huscht ein flüchtiges Lächeln über ihr zufriedenes Gesicht. Ihre Augen, abwechselnd schließend, dann wieder öffnend, ist sie dem Anschein nach gedanklich voll bei ihren Bratäpfeln. Sie zeigt nicht die geringste Neigung, das Thema zu wechseln und bemerkt – wie beiläufig: »Mein Mann ist in solchen Fällen oft ängstlicher als ich. Obwohl er mich vor der Fahrt zu Dir auf die Nachrichten verwies, in denen vor einem überraschenden Kälteeinbruch und glatten Straßen gewarnt wurde, bin ich mit meinem Wagen ohne Probleme zu Dir hierhergekommen«. Die zugegeben, nicht so einladende Wetterlage, sollte uns aber nicht davon abhalten, die wenigen Kilometer nach Stetten zu fahren. Es stehen ja sonst die Bratäpfel und der schöne „Bridge-Abend“ auf dem Spiel. Die B14 ist sicher gestreut und gut befahrbar. Und außerdem, fügte sie schelmisch und leicht überlegen lächelnd hinzu: »Unsere ängstlichen Männer fahren ja nicht mit«. Ihre Freundin entgegnet: »Klar, und im Unterschied zu vielen Autofahrern haben wir ordentliche Winterreifen. Kein Wunder, wenn Sommerbereifte ins Rutschen kommen!« Darauf entgegnet Traudel: »Ich kann mich blind auf meine Mann verlassen. Er sorgt immer für unsere Sicherheit. Wir sind gut bereift«.  Als ob sie ihren Worten den nötigen Nachdruck verleihen möchte, drückt sie -zur Probe- herzhaft auf die Bremse und erschrickt: »Huch, ich glaube, es ist doch etwas glatt!» entfährt es ihr. Ihre Freundin Anne bemerkt hierzu in beunruhigender Selbstsicherheit: »Macht nichts! Dieses Wetter kann uns nicht einschüchtern. Denk an die leckeren Bratäpfel, die es bei Frau Sommer gibt. Diesen Hochgenuss und den schönen Bridge-Abend können wir uns nicht entgehen lassen«. Es gelingt Anne aber nicht mehr, ihre Freundin vollständig davon zu überzeugen, dass keine Gefahr droht. Man konnte ja bei der zunehmender Dunkelheit, dem stärker aufkommenden Regen und  den vielen irritierenden Lichtern entgegenkommender Fahrzeuge, den Mittelstreifen kaum mehr erkennen.Traudel hat inzwischen bereits vorsichtigerweise die Geschwindigkeit gesenkt. Sie hängt nach vorn gebeugt über dem Lenker und versucht, angestrengt durch die hochtourig laufenden Scheibenwischer hindurch blickend, den Bodennebel zu durchdringen, um bei dem lebhaften Verkehr die Orientierung nicht zu verlieren. Leicht gereizt, presst sie zwischen den Lippen die Bemerkung heraus: »Wie üblich, der Hartmannsweiler Stau! Aber heute schon so ungewöhnlich früh«. Dann fügt sie in einer Art kritischem Kommentar hinzu: »Immer diese ängstlichen Autofahrer, die sich bei Glatteis nichts mehr zutrauen«! Anne, von ihren Gedanken über die leckeren „Bratäpfel“ unangenehm abgelenkt, entgegnet: »Man kommt nicht vorwärts, wenn alle so langsam und vorsichtig fahren. Scheint doch sehr glatt zu sein«? »Vorsicht«! ruft Traudel plötzlich: »Ich mache eine Bremsprobe«. Dann bemerkt sie erschrocken: »Na ja, ganz so viel Halt haben wir nicht«, als der Wagen leicht ausbricht. Sie fährt fort und ermahnt sich selbst mit den Worten: »Immer nur leicht auf dem Gaspedal bleiben und nicht plötzlich bremsen«! Sie hat jetzt nur noch Augen für den Verkehr und schreit erregt: »Vorsicht, da vorne stehen sie!  Ich glaube da liegt schon einer im Graben. Da geht nichts mehr«! Um dann enttäuscht hinzuzufügen: »Arme Frau Sommer; und unsere schönen Bratäpfel! Vorgestern habe ich ihr noch die „Brettacher“ gebracht, das sind einfach die besten dafür«.Anne, immer für einen Rat gut, sagt hierauf: »Ich schlage vor, wir biegen einfach ab. Ich kenne eine passende Nebenstrecke. Wir fahren über Höfen, da ist die Straße sicher frei. Traudel versucht es mit einem kaum mehr wahr zu nehmenden Einwand: »Hier scheint’s aber spiegelglatt zu sein! Da vor uns am Berg, drehen bei einem Auto schon die Räder durch«! Danach selbstkritisch: »Bloß nicht anhalten! Achtung! ich fahre um das Auto herum in die Kreuzung«. Und mit einem Aufatmen: – »Geschafft, das war aber knapp! Wie viele Menschen heute unterwegs sind. Die können alle nicht Auto fahren«! Anne erregt warnend schreit:  »Rechts vor uns liegt einer im Graben«! Hierauf bemerkt Traudel, betont höflich, »Danke, ich weiche aus«. Dann leicht entsetzt der Ausruf: »Links, ein Auto im Gegenverkehr schlingert! Wie kommen wir hier vorbei«? Sie gibt sich selbst gute Ratschläge und sagt laut und deutlich: »Immer ruhig bleiben. Ich schlängle mich durch. Bloß nicht bremsen und anhalten. Huch, jetzt geht’s bergab«! Der Wagen rutscht fast von allein. Bremsen nützt nichts. Entsetzt äußert Anne: »Rechts vor uns liegt einer im Graben! Vorn links, auch! Sind das aber viele Autos, die liegen bleiben! Was wollen die denn alle bei so einem Wetter auf der Straße? Frau Sommer wird uns schon sehnlich erwarten. Es ist ja bereits Viertel nach Acht. Die schönen Bratäpfel! Wir haben uns doch so auf diesen Abend gefreut. Um besser sehen zu können, rückt Traudel immer näher an die Windschutzscheibe heran. Dann mahnt sie sich deutlich zur Vorsicht: »Achtung! komme ich da durch? Verdammt eng! Wie weit der in der Mitte fährt, der Hornochse! Hoffentlich fängt er nicht an zu rutschen«! Sie atmet befreit auf mit den Worten: »Gut gemacht«! Endlich eine ebene Strecke, vierspurig. Jetzt haben wir es nicht mehr weit. Wäre ja auch zu schade, wegen so einem  bisschen Glatteis auf die leckeren Bratäpfel und unseren schönen Bridge-Abend verzichten zu müssen. Die beiden Bridgerinnen erreichen auf ihre Weise wohlbehalten das gastliche Haus von Frau Sommer. Die Bratäpfel sind nicht verkohlt und schmecken nach der anstrengenden Reise besonders gut. Und als sie sich gegen Mitternacht zur Rückfahrt auf den Weg machen, hat ein gütiger „Wetter- oder Bridge-Gott“ die Strasse von jeglichem Glatteis und unangenehmen Verkehrsteilnehmern befreit. Sie sind sich auf der Heimfahrt einig, dass es sich in diesem Falle lohnte, entgegen der guten Ratschläge ihrer Männer, den eigenen Fahrkünsten und Entscheidungen zu trauen.

Tropfen an den Scheiben

 

 

 

WP to LinkedIn Auto Publish Powered By : XYZScripts.com
Social media & sharing icons powered by UltimatelySocial